Seite:Die Gartenlaube (1886) 060.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Ich dachte aber, indem ich so hartnäckig auf der Möglichkeit einer derartigen glaubenlosen Liebe bestand, an den Vater, von dem ich, obgleich er mit mir nie von diesen Dingen gesprochen, zweifelte, daß er jenen Glauben habe, und an Jettchen Israel, die ihn doch, als Jüdin, in dem Sinne des Pastors gewiß nicht hatte.

Und ich dachte an eine, die ihre Tage in Beten und Fasten verbrachte, und sich wochenlang nicht darum kümmerte, ob ihr Kind lebte oder todt war.

„Nein, Herr Pastor“, wiederholte ich; „der Glaube hat mit der Liebe nichts zu schaffen.“

Er ging vor dem armen Sünder, der, die flachen Hände zwischen den Knieen zusammengeklemmt, auf seinem Stuhle saß, mit ungleichmäßigen Schritten in dem großen, von dem Schein einer Studirlampe mäßig erhellten Zimmer hin und her, bald die blutlosen Finger ringend, daß sie krachten, bald mit denselben durch das starre kurzgeschorene Haar fahrend; jetzt leise flüsternd, jetzt Unverständliches vor sich hinmurmelnd.

Plötzlich blieb er mitten im Gemache stehen und rief, die beiden Arme in gewaltsamer Bewegung nach oben schleudernd:

„Schweigen Sie! Ich darf das nicht hören, und ich will’s nicht hören! Wer bist Du, der Du ein Herz hast, Dein Ohr zu verschließen gegen die sanfte Stimme, die da sprach: kommt her zu mir alle! Der Du wagst, Dich aufzulehnen gegen die Autorität der Evangelisten und Apostel. eines Johannes, eines Paulus; gegen das Beispiel all’ der heiligen Männer, die früher und später, ihrem Meister folgend, die Kraft ihres Glaubens durch den Märtyrertod besiegelt haben? Und wenn Du, wie ich fürchte, bereits genascht hast von jener gräulichen Irrlehre, die im dem Buche der Bücher nicht Gottes Wort sieht, sondern ein profanes Werk, an dem man deuteln und kritteln kann, und mit ihnen sprichst: dies sei erwiesen und jenes nicht – sieh mich an, der ich kein Evangelist und kein Apostel und kein Heiliger bin, sondern ein sündiger Mensch, wie Du, und gezweifelt habe, wie Du, und der ich mich losgerungen habe von Zweifel und Teufel und von der Hölle, die mich schier verschlingen wollte, durch die Kraft des Gebetes! Und der ich Dich losringen will durch des Gebetes Kraft. Auf die Kniee! nieder, nieder auf die Kniee!“

Er hatte, meinen Arm packend, mich vom Stuhle zu sich auf die Kniee gerissen mitten im Zimmer auf die nackten Dielen und begann zu beten mit lauter, fast schreiender Stimme, während ich, halb in Schauder vor dem Feuereifer des Mannes, der mir wie Wahnsinn erschien, halb voll Unwillen über den Zwang, der mir offenbar angethan wurde – denn er hielt mich während der ganzen Zeit fest am Arm gepackt, außer ein paar Mal, wo er in höchster Ekstase die Hände zusammenkrampfte – wohl oder übel neben ihm auf den Knieen verharren mußte. Endlich ließ er mich los, indem er sich zugleich erhob und nach seinem Arbeitssessel schwankte, in welchem er, wie gebrochen, zusammensank.

Ich stand wieder auf den Füßen in einiger Entfernung von ihm, zitternd an allen Gliedern, nun von dem Anblick des fast Ohnmächtigen, der doch seine letzte Kraft für mich hingegeben hatte, zum ersten Mal während dieser sonderbaren Scene wirklich gerührt. Ich bin überzeugt, er hätte mich jetzt für ein einziges Wort haben können. Ich darf sagen, ich wartete nur auf das Wort, das mir die Brücke schlagen sollte von dem Unglauben, den ich frei geäußert, zu dem Glauben, welchen ich jetzt, da ich mir wie ein Gefangener und Gefesselter erschien, bekennen sollte.

Und plötzlich schnellte er, einer sich bäumenden Schlange gleich, aus dem Sessel auf und rief mit einer heiser zischenden Stimme:

„Was stehst Du da, wie der Feigenbaum an dem Wege, da der Herr wieder in die Stadt ging und ihn hungerte? Und fand nichts daran, denn allein Blätter. Weißt Du, was da der Herr zu ihm sprach? Weißt Du es?“

Er war unmittelbar vor mir, mich mit glühenden Augen anstarrend. Ich stand in dumpfem Schweigen. Er schrie, indem er mich an beiden Schultern ergriff und bei jedem Worte schüttelte:

„Weißt Du, was weiter geschrieben steht in selbigem Verse?“

Ich wußte es; aber verharrte in meinem Schweigen, nicht aus Trotz, denn ich fühlte mich bis ins Innerste erschüttert, nur daß mir die Zunge wie gelähmt war.

So vergingen ein paar bange Sekunden. Endlich vermochte ich zu stammeln:

„Lassen Sie mir Zeit!“

„Jetzt oder nie!“ schrie er. „Ja, oder nein?“

Ich wollte Ja sagen und wieder versagte die Zunge mir den Dienst. Er murmelte etwas durch die Zähne – es mochte der Fluch des Herrn sein, den auszusprechen er sich doch wohl scheute und stieß mich von sich. Ich wankte nach der Thür, ohne zu wissen, daß ich es that. Aber bevor ich sie erreichte, stand er wieder vor mir, mir den Weg vertretend, nicht mehr der eifrige zornige Priester, der trotz alledem mein Freund war – ein anderer Mann, den ich mir zum Feinde gemacht hatte, und dessen feindliche Gesinnung schon aus seinem Auge schielte, bevor er noch die zuckenden Lippen öffnete, um in bitterem Hohn zu sprechen:

„Und nun geht es hin, das Produktlein modernen Aufklärichts, in seines Vaters Werkstatt, des glauben- und kirchenlosen Mannes, sich die Särge anzusehen, in welchen die Todten ihre Todten begraben, sie, die auch einst erwachen werden, aber in der Hölle, und wird daselbst sein Heulen und Zähneklappen. Oder in das Haus nebenan zu schleichen, wo die Abkömmlinge derer wohnen, die den Herrn gekreuzigt haben, auf daß sie weiter tanzen können um das Goldene Kalb. Geh! Du bist des Einen und der Anderen werth!“

Er hatte mir Raum gegeben; ich wankte aus dem Zimmer, aus dem Hause und stand auf der Gasse, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war, es erst bemerkend, als der Nachtwind, der rauh vom Meere herauf kam, mir um die heiße Stirn, die glühenden Wangen strich, daß es mich schüttelte wie im Fieber.


9.

Und wie im Fieber wankte ich weiter durch die dunkle Gasse, nicht nach Haus, wohin ich nur wenige Schritte hatte, sondern hinauf in die Stadt. Ich wußte wohl: der Vater wartete in dieser Stunde mit dem Abendbrot auf mich; aber ich konnte ihm jetzt nicht gegenübertreten. Ich hätte ihm alles gesagt – das fühlte ich, und das wollte ich nicht. Ich wollte keinen Helfer in dieser Sache, und das wäre er mir zweifellos gewesen; ich wollte einen unparteiischen Richter; aber wo den finden? Einen Augenblick hatte ich an Jettchen gedacht; aber sie war ja auch Partei, gerade wie der Vater, und dies ging doch wohl so wie so über ihr Verständniß. Dann fiel mir der Beichtvater meiner Mutter ein. Der höfliche Mann würde mich gewiß nicht so rauh anfassen, und ich gönnte dem Pastor den Schrecken, wenn er hörte, daß er, den er aus seiner Schaar vertrieben, in das andere Lager gegangen sei. Aber es stand ja bei mir fest, daß meine Mutter, die sich von mir losgesagt hatte, auch die religiöse Gemeinschaft mit mir von sich wies, daß, zu ihrer Konfession übertreten, mich bei ihr einschleichen, eindrängen wollen heiße. Und dagegen sträubte sich mein ohnehin bereits durch ihre hartnäckige Zurückweisung meiner Liebe tief verletzter Stolz.

So kehrte ich denn auf dem Wege, den ich bereits nach der Wohnung des Geistlichen in einer Gartenvorstadt auf der entgegengesetzten Seite der Stadt zum größten Theil zurückgelegt hatte, wieder um und irrte rath- und ziellos weiter; vorbei an unserm Gymnasium und an der nahegelegenen Wohnung des Ordinarins meiner Klasse. Plötzlich blieb ich stehen: das war der rechte Mann. Er war unerbittlich streng, aber auch unbedingt gerecht, und ich hatte stets das vollste Vertrauen zu ihm gehabt. Ueberdies kannte er den Vater, und dieser ihn aus dem Handwerkerverein, dessen Vorsitzender er war, nachdem er selbst die für unsere Stadt völlig neue Schöpfung erst vor wenigen Monaten ins Leben gerufen. Wie er denn überhaupt an der Spitze aller gemeinnützigen städtischen Unternehmungen und ebenso der liberalen Partei stand, welche mit dem umliegenden Landkreis ihn sogar im vorigen Jahre zum Abgeordneten für den Norddeutschen Reichstag erwählen wollte, nur daß er das Mandat abgelehnt hatte. Er wisse ja schon nicht, wie er seine Arbeit bewältigen solle. Ja, das war der Mann!

Ich zog die Schelle und trat in das Haus auf den von einer spärlichen Lampe kaum erhellten Flur. Als die Magd ging, mich, der ich ein dringendes Anliegen an den Herrn Professor

habe, zu melden, und zu dem Zweck, die Thür eines Zimmers

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_060.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2024)