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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

plumpen Schnallenschuhen hervorsah. Er hatte ein scharf geschnittenes bartloses Gesicht, das ganz blutleer zu sein schien, und trug den aristokratisch feinen kleinen Kopf immer tief gebeugt. Auch war er von Adel: ein Herr von Ruver, aus einem alten niederrheinischen Geschlecht. Ich hatte eine große Scheu vor ihm, trotzdem er bei unseren flüchtigen Begegnungen immer sehr freundlich zu mir war, gelegentlich mir auch die schlanke, wohlgepflegte Hand reichte und ein paar Worte an mich richtete. Ich sollte später erfahren, daß es nicht an ihm gelegen hat, wenn ich nicht zu seiner Herde gekommen bin – meine Mutter wollte es nicht. Hätte sie doch fürchten müssen, mir im Himmel wieder zu begegnen und an die leidige Erde und den Erdenrest, den von sich abzustreifen ihr einziges Verlangen war, schmerzlich wieder gemahnt zu werden! Guter Gott, ich wollte ihr ja nicht im Wege stehen, weder hüben noch drüben; ich, der ich beglückt gewesen wäre, hätte sie mich nur still neben sich geduldet, mich satt zu schwelgen an ihrer Holdseligkeit; und der seine Anwartschaft auf den Himmel und seiner Seelen Seligkeit mit Freuden hingegeben haben würde für einen Kuß von ihrem geliebten Munde!

Nun freilich, da mir das brennende Verlangen ewig unbefriedigt blieb, erfaßte mich allmählich ein immer tieferes Grauen vor der katholischen Religion, in welcher ich die Ursache meines Leides zu erkennen glaubte. Vielleicht verbot sie den Müttern, ihre Kinder zu lieben und zu küssen, wie es andere Mütter dürfen: protestantische und jüdische, und heidnische in den Kauf, denn aus dem Alterthum wurde doch von so mancher heroischen Liebe berichtet, die zwischen Mutter und Sohn gewaltet. Nicht zwischen erdgebornen Menschen nur! Hatte doch selbst Thetis, die göttliche, sich ihres unglücklichen Sohnes erbarmt! Ach, noch fühle ich die brennenden Thränen, die ich vergoß, als ich zum erstenmale las, wie sie, eilenden Schwungs der finsteren Fluth entsteigend, sich zu dem Thränenbenetzten setzt und, ihn sanft mit der Hand streichelnd, die tröstenden mitleidigen Worte spricht:

„Kind, was weinest du doch? Was rühret dein Herz mit Betrübniß?“

Wie viel heiße Thränen hatte ich nicht schon vergossen in der Stille meines Kämmerleins, und die Thür hatte sich nicht aufgethan, und sie war nicht hereingeglitten, hatte sich nicht auf den Bettrand gesetzt und mitleidsvoll gefragt:

Kind, was weinest du doch?

Ja, die Religion verbot es ihr, die katholische, grausame, welche die Ketzer zu Tausenden verbrannt hatte und schöne Jungfrauen als Nonnen in ein dumpfiges Kloster sperrte, und wenn die Unseligen sich wieder hinaussehnten in die Sonne zu den Menschen, lebendig einmauerte.

War meine Mutter eine Nonne?

Ich wußte, daß sie ihre Nachtwachen und ihre Fasten mit grausamer Strenge hielt; daß sie nur geistliche Bücher las, nur geistliche Lieder sang; daß selbst die Teppiche und Tücher, an denen sie in den freien Stunden stickte, für Kirchen und Kapellen bestimmt waren. Aber Nonnen lebten doch nur in einem Kloster, und gesetzt auch, sie durfte draußen leben, weil wir in unserer Stadt und in unserer Provinz, soviel ich wußte, vielleicht im ganzen preußischen Lande (was ich nicht wußte) keines hatten — Nonnen durften doch nicht verheirathet sein, was doch die Mutter war! und durften gewiß keine Kinder haben, und ich war doch ihr Kind! Und wenn ich nicht das Kind des alten guten Mannes da hinten in der Werkstatt, wenn er nur mein Stiefvater, wie er an jenem Morgen zu dem Major gesagt hatte, — einen wirklichen Vater mußte doch jeder Mensch haben — soviel wußte ich nun mittlerweile auch — wer aber war dann mein Vater gewesen?

Hier hätte ja nun scheinbar nichts näher gelegen, als daß ich mich mit dieser Frage vertrauensvoll an meinen Stiefvater gewandt hätte; in Wirklichkeit lag nichts ferner — wenigstens für mich. Es war mir einfach unmöglich. Er hätte es wahrlich nicht um mich verdient. Er, der mich, solange ich denken konnte, mit der rührendsten Sorgfalt gehegt und gepflegt — noch in meiner letzten schweren Krankheit, — der nie, nie einen unfreundlichen Blick, ein rauhes Wort, immer nur Liebe und Güte und herzlichen Zuspruch für mich gehabt hatte; ja, dessen Liebe zu mir auf Kosten der Liebe zu seinen beiden rechten Kindern von Jahr zu Jahr gewachsen war — ihn hätte ich fragen sollen: wer war der Mann meines Traumes mit den blitzenden Augen, vor dem meine Mutter und ich auf den Knieen gelegen in jener Nacht, in die er uns hinaustrieb aus dem goldschimmernden Raum mit den geheimnißvollen Gesichtern und Gestalten unter die flimmernden Sterne, die plötzlich vor dem klappernden Berge in dem Fürchterlichen erloschen, das ganz schwarz war und sauste und brauste?

Ich hätte ebenso wohl ein kleines Kind mißhandeln, ein hilfloses Thier quälen können, als ihn mit der Frage angehen, wenn ich ihn, der emsig weiter schaffte, auf meinem alten Kinderplatze in der Werkstatt sitzend, still beobachtete, oder er mir jetzt, für einen Moment rastend, mit dem schwermüthigen Lächeln um den guten Mund und in den treuen blauen Augen freundlich zunickte:

Ist es gut gegangen in der Schule, Kind?

Ja, Vater, aber mit der Mathematik wird es immer schlimmer.

Und ich erzähle ihm getreulich all’ meine Schulleiden und Freuden. Und daß ich einen großen Respekt vor unserem Ordinarius, Herrn von Hunnius habe, der in Wirklichkeit ein Böhme sei, von dem die Jungen aber sagten, daß er von den Hunnen abstamme, und der auch wie ein Hunne aussehe mit seinen wirren krausen Locken und seiner aufgestülpten Nase, aber Latein spreche, wie Wasser, und bei dem man tüchtig was lernen könne, wenn man nur aufpasse. Und von Ulrich von Vogtriz, der neu hinzugekommen und mit seinen sechzehn Jahren so groß und stark sei wie ein Mann. Sei aber sonst ein guter Junge trotz seiner Täppigkeit. Es sei auch noch ein Vogtriz gekommen, aber älter als Ulrich und gleich nach Prima, und beide seien von der Ritterakademie auf der Insel und Neffen des Majors und bei dem Direktor selbst in Pension.

So mochte ich stundenlang sprechen, ohne daß der gute Vater je müde geworden wäre zuzuhören. Im Gegentheil: wie er des Kindes treuer Hüter und bester Spielgesell gewesen war, indem er dem schweifenden Triebe erst die feste Richtung, den zerflatternden Phantasieen Form und Gestalt gab, so nahm er jetzt denselben innigen Antheil an allem, was der Knabe erlebte und erstrebte, und sein einziger Kummer war, daß er mir bei den Exercitien und den vertrackten Exempeln nicht mehr so ausgiebig helfen könne, wie beim Bogenschnitzen und Drachenkleben oder bei dem Bau des Kaninchenpalais oder der Errichtung des Vogelhauses. Und wenn ich früher gemeint hatte, daß er trotz aller Theilnahme an meinem Wohl und Wehe doch für die brennende Frage meines jungen Lebens kein Verständniß habe, so war ich mittlerweile eines andern belehrt worden. Darüber belehrt worden, daß ich an dem Treuen auch in dem Leide meines jungen Lebens einen Gefährten habe, dessen weiches Herz sich in diesem Leide verzehrte, wie die Kerze in der Flamme.

Ein sonderbarer Zufall hatte mir diese Entdeckung gebracht.

Neben der Werkstatt nach dem Wohnhause zu war ein kleines Gelaß, das seinen einzigen Eingang nach der Werkstatt hatte und von oben durch ein schräg gestelltes Fenster sein kümmerliches Licht empfing. Es hatte keine Dielen, sondern einen von Alter zermürbten, in wirren Spalten klaffenden Estrichfußboden und war, wenn schon im Sommer kühl, so im Winter bitter kalt, denn der kleine Kanonenofen in der Ecke wurde selten oder nie geheizt. In der anderen Ecke, unter dem schrägen Fenster im Dache, stand ein altes Stehpult, dessen Klappe man aufheben mußte, um zu dem darunter befindlichen Kasten zu gelangen. An diesem Pult besorgte der Vater seine wenigen Schreibereien. Sonst war nur noch Platz für einen ebenfalls alten Schrank, in welchem seine paar besseren Kleider hingen (die er kaum jemals anzog), einen großen Koffer voll allerlei Kram, und ein niedriges schmales Gurtenbett mit einer durchgelegenen Seegrasmatratze, über welche eine wollene Decke gebreitet war, die der Vater einst als überschüssiges Exemplar einer Pferdedecken-Lieferung vor langen Jahren von Nachbar Hopp – das Hopp’sche Zeichen „H. H.“ schmückte in jetzt halb verblichenen großen rothen Buchstaben den einen Zipfel – für ein Billiges erstanden hatte. Die drei gekalkten Wände (die vierte nach der Werkstatt zu war nur ein bretterner Verschlag) entbehrten jeglichen Schmuckes, man hätte denn die drüberhin zerstreuten Feuchtigkeits-Flecke, in denen ich bald — je nach der Laune — Drachen und sonstige Ungeheuer, oder die vielgezackten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_044.jpg&oldid=- (Version vom 14.1.2024)