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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

den winzigen Hof hinunter und auf die entblätterte Akazie, die des Vaters Freude gewesen. Der Anblick hatte mich sonst immer traurig gestimmt: wie ein Gefangener war mir der Baum erschienen zwischen den grauen Mauern der Hintergründe; – heute dünkte es mich, als gäbe es keine schönere Aussicht auf der weiten Welt, als könnte ich mich nicht trennen von dem einsamen Baum, auf den nun fremde Menschen blicken würden von diesem Fenster aus.


Ja, sehr schwer ward das Scheiden, und wir ließen doch nichts weiter zurück, als todte Vergangenheit.

Es hatte gereift an jenem Morgen und empfindlich kühl war es während der Droschkenfahrt durch die schlummernde Stadt. Abschied hatten wir von niemand genommen, die Stunde der Reise war sorgsam verschwiegen geblieben; so kam es, daß wir unbehelligt unser Gepäck besorgen und ungesehen in das Frauenkoupé dritter Klasse schlüpfen konnten. Lotte, die ihr letztes Taschengeld an ein Hundebillet für Schnips gewendet hatte, setzte sich wie ein Opferlamm auf die harte Bank; sie war sehr blaß, aber sie weinte heute nicht. Ich machte der alten Dame einen bequemen Sitz aus Kissen und Schlummerrollen zurecht und schob ihr ein Bänkchen unter die Füße. Lotte rührte sich nicht; sie sah starr hinaus in das Häusergewirr, welches der Zug zunächst durchschnitt, und ihre Hände umfaßten ein großes Veilchenbouquett, das gestern Abend für sie abgegeben war mit einer wappengeschmückten Karte. Als der Zug an den letzten Häusern vorüberbrauste, warf sie die Blumen mit hastiger Bewegung hinaus, als sollte nichts sie erinnern an das, was hinter ihr versank. Dann holte sie tief Athem, legte den Kopf zurück, zog den Schleier vor das Gesicht, und so blieb sie während der ganzen langen Fahrt.

Da draußen aber war allmählich die Gegend immer schöner geworden und das Flachland längst einem hügeligen Terrain gewichen. Anmuthig lugten Dörfer aus dem bunten Laube des Herbstwaldes, wolkenlos blaute der Himmel über der Erde; nach langer Regenzeit der erste schöne Tag. Der September grüßte noch scheidend. – Wenn’s so licht wird um uns herum, dann faßt das Herz wieder Muth, und was ich lange nicht gekonnt, ich begann Pläne zu machen, Hoffnung an Hoffnung zu knüpfen, Luftschlösser zu bauen. Wer weiß, welch Glück in dem Städtchen auf uns lauert? Es sitzt vielleicht schon auf der Schwelle der kleinen Wohnung und wartet nur auf unser Kommen, um uns seine Rosen in den Schoß zu werfen? Lotte findet vielleicht einen Prinzen, Großmama lebt auf in der schönen Luft, im Verkehr mit den alten Bekannten, und, ob es nicht eines Tages an die Stubenthür klopft und unser lieber Hans kommt wieder, ruhig, gesetzt, kein bißchen mehr leichtsinnig? Das wäre das Schönste! – Und als hätt’ ich dies Alles schon fest an seinen vier Zipfeln, rückte ich näher zu der alten Großmama, drückte ihr die Hände und sah in ihr kleines verwelktes Gesichtchen. „Es wird noch Alles gut,“ sagte ich, „noch Alles!“

Und die alte Frau neigte ernsthaft den Kopf. „Warum auch nicht? Aber es ist dennoch gut, daß die Zukunft verborgen liegt.“

Ehe die Sonne versank, hielt der Zug in Triebelsberg, der Station, wo wir das Koupé mit dem Omnibus vertauschen mußten, denn noch besaß Rotenberg keine Bahnverbindung. „Nun kommt das Anstrengendste der Reise,“ meinte die Großmutter. „Ihr könnt mich möglicherweise todt aus dem Marterkasten heben, wenn wir in Rotenberg gelandet sind. Aber das hilft denn nichts, also vorwärts! Lotte, gieb mir den Arm; Tone, besorge das Gepäck und belege Plätze in der Arche Noah.“

Das lange schmale Fuhrwerk mit den zwei abgetriebenen Pferden repräsentirte sich in der That nicht gerade vertrauenerweckend meinen Augen, als ich eilig um die Ecke des Stationsgebäudes kam; aber daneben stampften ein Paar große kugelrunde Apfelschimmel den Kies des Platzes, und auf dem Bock der stattlichen Kutsche saß ein Rosselenker, der sogar eine Art Livrée trug, ein bildhübscher junger Bursche. Er hielt die Peitsche, an der oben eine hochrothe Schleife befestigt war, wie ein Posten sein Gewehr und pfiff dazu ein Liedchen. Das Gefährt imponirte mir sehr – oder war es Neid? Ich mußte mich im Vorübergehen noch einmal danach umsehen. „Wenn ich das hätte für die Großmama!“

Da trat Etwas zwischen mich und den Gegenstand meiner Bewunderung, und eine Männerstimme fragte: „Entschuldigen Sie, Fräulein, habe ich die Ehre, eine der Werthern’schen Damen zu sehen? Ich bin Fritz Roden, und gekommen, die Herrschaften mit unserem Wagen abzuholen.“

Ich hatte schon während seiner ersten Worte freudig bejaht und legte nun meine Rechte in die treuherzig gebotene Hand des jungen Mannes. Es waren ein Paar ernste ehrliche Augen, die halb verlegen zu mir herunter sahen, denn Fritz Roden war ein junger Riese, der mich, obgleich ich ganz und gar nicht zu den Kleinen gehörte, um eine Kopflänge überragte. Und diese Augen schauten unter einer gewölbten Stirn hervor, über der sich starke blonde Haare krausten, genau so blond und dick wie bei unserem Hans. Ich hatte gar nicht das Gefühl, er sei ein völlig Fremder, und stellte ihn eiligst der herankommenden Großmutter und Schwester vor, ganz beglückt von der Aussicht, im bequemen Wagen fahren zu können und so frenndliche Menschen in dem unbekannten Rotenberg zu finden.

Er hatte wirklich etwas Unbeholfenes, der Herr Fritz Roden, denn als er jetzt vor Großmama und Lotte stand, wußte er gar nichts zu sagen; er stotterte nur und schüttelte der alten Dame die Hand, als wäre sie sein Dutzbruder; und als Lotte, die den Schleier zurückgenommen hatte, ihn von oben bis unten betrachtete, wobei sich allmählich ein staunendes Lächeln über ihr reizendes Gesicht verbreitete, wurde er so roth wie Purpur und ging eiligst voran, dem Wagen zu. Als wir eingestiegen waren, lehnte er, noch mehr erröthend, die Einladung ab, neben mir – Lotte konnte nie das Rückwärtsfahren vertragen – Platz zu nehmen, und schwang sich zu dem Kutscher auf den Bock. Lotte hatte inzwischen mit demselben staunenden Blick, mit dem sie Fritz Roden betrachtete, den Kutscher, die Pferde und die gehäkelten Schutzdecken der Wagenpolster gemustert; nun lehnte sie im Fond, den Pinscher zwischen sich und der Großmama, ließ den schwarzen Kreppschleier um ihr blasses Gesicht flattern und vom Abendwind die Stirnlöckchen verwehen und versank in Träumereien, wie es so ihre Art war.

Die Großmutter schlief, und Schnips legte den Kopf in Lottens Schoß, blinzelte noch ein wenig und schlief dann ebenfalls; der Wagen fuhr in langsamem Trott in die sinkende Nacht hinein, und hinter uns versank die Sonne in feurigem Roth. Ich starrte so lange hinein, bis mir die Augen wehthaten; und als ich mich wie geblendet umsah, erblickte ich durch die grünen tanzenden Flecke vor meinen Augen Fritz Roden, der sich auf dem Bock halb herumgedreht hatte und Lotte anschaute. Als nun mein Blick zu ihr flog, bemerkte ich, daß sie ihn ebenfalls anstaunte; aber es war ein trotziger Ausdruck in diesen großen schönen Augen, als wollte sie fragen: „Wer bist Du? Was willst Du? Ist es auch der Mühe werth, Dich zu bemerken?“

Damals verstand ich sie nicht; mir verschwand nur plötzlich jenes beglückende Gefühl, das mich noch eben belebt hatte; mich fror, und ich ärgerte mich und konnte nicht sagen, über was? Nach einem Weilchen bog Lotte sich vor und raunte mir lachend ins Ohr: „Alles ein Schlag, Tone, die dicken Schimmel und der große Mensch in Stulpenstiefeln und Joppe; die Pferde werden nicht durchgehen und er –“

Sie verstummte, denn eben wendete er sich wieder zu uns und sagte: „Jetzt sind wir gleich daheim.“

Es war völlig dunkel geworden, der Wagen fuhr schneller durch eine finstere Allee, dann rasselte er über ein entsetzliches Steinpflaster, so daß Großmutter unsanft geweckt wurde und sich räuspernd zurecht setzte. Und nun Häuser, erleuchtete Fenster; unter einem Thorbogen ging es hindurch, über einen weichen chaussirten Weg, an stattlichen Bäumen vorbei, hinter denen schwarz und massig ein langgestrecktes hohes Gebäude lag; zur Rechten ein wunderliches Gemisch von Mauern und verschnörkelten Giebeln, die in den dunklen Abendhimmel ragten, und nun noch einmal ein Thorbogen und wir fuhren in einen weiten Hof. Helle Fenster winkten uns, Hundegebell schlug uns entgegen, der Wagen hielt vor der gewölbten weit geöffneten Hausthür, und durch den erleuchteten Flur kam rasch eine kleine alte Dame, die sich eilends die Hände an der blendend weißen Schürze wischte, uns entgegen.

„Frau von Werthern!“ rief sie, „welch große Freude! Ach, und die lieben armen Kinder! –“ Dann brach ihr die Stimme im Weinen.

Das war Fritz Roden’s Mutter. So mußte sie auch aussehen, dachte ich, als wir längst in der Wohnstube am gedeckten Tisch saßen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_030.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2024)