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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Jetzt wendet er sich wieder zu mir.

„Was willst Du denn werden, mein Sohn?“

„Soldat!“

Ein wehmüthiges Lächeln zuckt über das schöne Gesicht.

„Auch mein Ernst wollte Soldat werden,“ murmelt er.

Er sinnt nach, indem er mich aufmerksamer als je betrachtet. Ich weiß jetzt, was er damals in seiner Seele erwogen hat, Aber er war nicht der Mann, eine Lücke, die das Unglück in sein Leben gerissen, auf Kosten eines anderen Menschen zu füllen, und ein Blick in das bleiche stille Gesicht meines Vaters, dessen gute Augen während dieser kleinen Scene zärtlich auf mich gerichtet gewesen sind, hat ihm gesagt, wer der sei, der die Kosten würde zu tragen haben.

„Und Du liebst Deinen Vater sehr?“ fragt er mich.

„Ja,“ sage ich treuherzig.

„Fahre fort ihn zu lieben, und Gott segne Dich!“

Er hat mich zu sich emporgehoben, mich geküßt, und will zur Thür hinaus.

Der Vater hat einen jener Momente, wie sie ihm häufig kommen, wo er, alles um sich her vergessend, in sich hinein träumt und mechanisch mit der Linken durch den grauen Bart streicht. Der Major sagt freundlich: „Adieu, Meister!“

Der Träumer erwacht und blickt dabei unbewußt auf seine Hand, da sie es gewesen, von der seine Träumerei ausgegangen ist. Der Major bemerkt die Verstümmelung und sagt in demselben freundlichen Ton: „Das muß die Arbeit sehr erschweren, Meister.“

Der Vater wird roth und macht eine verlegene Bewegung, als wolle er die Hand verbergen.

„Ich habe mich daran gewöhnt,“ murmelt er.

„Ist es eine Schußwunde?“ fragt der Major; „es sieht so aus.“

„Ja,“ sagt der Vater zögernd.

„Soldat gewesen?“ fragt der Major.

„Nein.“

„Jäger?“

Der Vater schüttelt den Kopf. Und als er den Blick des Majors noch immer fragend auf sich gerichtet sieht, murmelt er ein paar Worte, die ich nicht verstehe.

„Ah!“ sagt der Major.

Ueber sein schönes Gesicht zieht es wie eine Wolke, aber nur für einen Moment. Dann lächelt er wieder wehmüthig freundlich und sagt: „Aber nicht wahr? heute keinen Groll mehr!“ und dabei streckt er dem Vater die Hand entgegen.

„Nicht gegen Sie, Herr Major,“ antwortet der Vater, indem er seine Hand in die des Majors legt.

Wie oft, wie oft habe ich später dieses Augenblickes denken müssen, als der hohe Soldat in seiner schönen Uniform da stand und meinem armen Vater in seinem Werkeltagszeug die Hand reichte, und der Sonnenstreifen über beide fiel!

Aber jetzt denke ich nicht daran, und das Gespräch der Beiden hat keine Bedeutung für mich gehabt. Ein Funke ist in meine Seele gefallen und hat sie in Flammen gesetzt. Als der Vater, der den Major über den Hof und durch das Haus auf die Straße begleitet hat, in die Werkstatt zurückkehrt, findet er mich dort nicht mehr. Ich bin hinaus und hinauf auf den Wall geeilt und spiele Soldat auf eigne Hand mit imaginären Feinden, die ich mit Hurrah aus den Haselbüschen vertreibe und über den Wall hinab in die See werfe, um die eilig Davonrudernden mit höhnenden Reden zu verfolgen.


4.

Von dem Tage an Wochen oder auch Monate hindurch hatte Emil Israel einen schweren Stand.

Bis dahin hatte ich die wilden Spiele ausschließlich mit Gustav Hopp und seinen zahlreichen Geschwistern oder sonstigen Kameraden gespielt auf Hopp’schem Revier im Pferdestall, in der Wagenremise, eingeschlossen den darüber liegenden Heuboden bis zum obersten Balken hinauf; die zahmen Spiele ebenso ausschließlich mit Emil auf unserm kleinen Terrain, manchmal (wie an jenem denkwürdigen Abend) auf der Gasse, niemals auf Israel’schem Gebiet, das zum Spielen nicht verlockte.

Seit Gustav todt war und sich in mir ein Widerwille gegen Karl Brinkmann, den Kutscher, festgesetzt hatte – sehr mit Unrecht, denn es war ein braver Bursch und den spielenden Buben stets ein treuer Eckart gewesen – mußte Emil als Genoß für alle Spiele eintreten. Ich aber wollte nichts Anderes spielen als Soldat. Zum größten Kummer Emil’s, dem es an jeglicher Sympathie für meine kriegerischen Gelüste fehlte und ebenso an der physischen Veranlagung zur regelrechten Ausführung einer militärischen Operation oder fortifikatorischen Anlage. So erschien mir in Anbetracht unserer gefährdeten Lage unabweislich, daß den Feinden, welche uns von der Seeseite angriffen, eine Schanze auf der Höhe des Walles entgegengethürmt werden müßte, von der wir ihr Nahen (das sie heimtückisch immer erst unter dem Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit versuchten) beobachten und durch ein wohlgezieltes Feuer unsrer Kanonen abweisen könnten. Schon bei Errichtung der Burg (sie war kreisrund mit einer einzigen Oeffnung nach der Landseite, zwei Schießscharten nach der Seeseite, auswendig mit Rasen belegt, inwendig mit Heu und Stroh gepolstert, oben mit Stangen, Reisig und Haselzweigen überdeckt und mochte, alles in allem, einer Vogelhütte en miniature gleichen) hatte Emil bei dem besten Willen, den er offenbar zu dem Werke mitbrachte, an dem unser Heil hing, eine Ungeschicklichkeit an den Tag gelegt, die mich manchmal ergötzte, viel öfter aber empörte. Noch viel schlimmer aber wurde die Sache, als es nun galt, Abend für Abend, das große Werk zu vertheidigen, was selbstverständlich in der Weise geschah, daß einer als Besatzung in demselben blieb, während der andere die dichten Büsche absuchte, in welchen sich die heimlich Gelandeten versteckt haben konnten, oder, wenn in den Büschen schlechterdings nichts zu entdecken war, den Wall bis zum Strand hinabpatrouillirte, dort nach den zweifellos Kommenden, lautlos Heranrudernden (sie hatten die Ruder stets mit Stroh umwunden) auszuspähen. Emil erwies sich gleich unbrauchbar zum Wachdienst, wie zum Patrouillendienst. Anstatt in der Burg zu bleiben, was seine heilige Pflicht war, fand ich ihn, so oft ich von meiner Patrouille zurückkam, vor dem Eingange kauernd, bleich vor Sorge und Angst über mein langes Ausbleiben; kam nun die Reihe des Patrouillirens an ihn, so schlich er zaghaft und still um die dunkeln Büsche herum, während seine Ordre dahin lautete, mit wildem Geschrei in dieselben einzubrechen und wer sich ihm entgegenstellte, mit dem Bajonnet über den Haufen zu rennen. Nun gar den Streifzug bis zum Strande auszudehnen, konnte ich ihn durch nichts bewegen. Es ist wahr, die Piraten, mit denen ich da unten (auf meinen Patrouillen) oft Brust an Brust zu kämpfen hatte, waren gräuliche Mordgesellen mit schwarzen Bärten, funkelnden Augen, ellenlangen, haarscharf geschliffenen Schwertern und spitzigen Dolchen. Aber es war doch seine Pflicht, mir zu Hilfe zu kommen, wenn ich, zu hart bedrängt, von unten her um Hilfe rief, um dann freilich, da keine Hilfe kam, den Strauß allein auszufechten und die Mordgesellen mit blutigen Köpfen ins Meer zurückzuwerfen.

So schalt ich auf den guten Jungen ein und schämte mich meiner Grausamkeit (und meiner Lügen), wenn er bei meinem Bramarbasiren immer stiller und verlegener wurde, immer krampfhafter an der langen Unterlippe sog und ihm wohl gar die Thränen aus den kleinen braunen kurzsichtigen Augen an der langen fleischigen Nase herabliefen. Aber alle Angst, die ich ihn ausstehen machte, die schlechte Behandlung, welche ihm nur zu oft zu theil ward, Zweifel an meiner Glaubwürdigkeit, die ihm sicher schon in diesem militärischen Stadium unsrer Freundschaft kamen und ihm, der die Wahrheitsliebe selber war, schwere Skrupel bereiten mußten, – nichts konnte ihn in seiner Treue und Liebe zu mir erschüttern, nichts auch nur den Wunsch in ihm erregen, mir die für ihn oft so lästige Gefolgschaft und demüthigende Botmäßigkeit zu kündigen. Er war und blieb mein Höriger und Vasall, seinem Lehnsherrn zu aller Zeit hold und zu jeder Dummheit, die dieser zu dekretiren beliebte, gewärtig. Dafür darf ich denn ohne Ruhmredigkeit behaupten, daß ich meine lehnsherrlichen Rechte nicht ausübte, ohne der obligaten Pflichten eingedenk zu sein. Und diese Pflichten waren nicht immer leicht. Es kam meiner Eitelkeit oft schwer genug an, dem Spott der andern Knaben gegenüber mich zu dem häßlichen „Judenjungen“ als meinem Freund und Kameraden zu bekennen. Und blieb es doch nicht immer beim Spott! Wie manchmal habe ich ihn ritterlich aus einer Bande ihn mißhandelnder Gassenjungen herausgehauen, ohne der Knüffe und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_023.jpg&oldid=- (Version vom 14.1.2024)