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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Abwehrend streckte Jörg die Arme aus. „Laß mich in Ruh’. Ich will nix lesen – ich will nix wissen!“

„Willst ihn auch net lesen, wann ich Dir sag’, daß Dei’n Ferdl selig sein guter Nam’ da drin steht – und drin steht, daß er net schuld is an dem Blut, wo geflossen is?“

Mit gläsernen Augen starrte Jörg den Jäger an. „Gidi – Gidi –“ stammelte er, „gieb mir den Brief, den Brief laß mich lesen!“ Die beiden Arme streckte er nach dem Blatte, und als er es in Händen hielt, hob er es dicht vor die Augen und begann zu lesen, mit nickendem Kopfe und raunenden Lippen. Als er zu Ende war, drehte er das Blatt zwischen den zitternden Fingern und starrte wieder den Jäger an, dann ließ er sich auf die Holzbank niedersinken, legte das Blatt vor sich auf den Tisch, fuhr mit den Händen in sein graues Haar und begann aufs neue zu lesen.

Der Jäger stand vor ihm und sah mit theilnahmsvollen Blicken auf ihn nieder – und so hörte keiner von ihnen den Wagen rollen, der draußen auf der Straße vor dem Thore des Finkenhofes anzuhalten schien.

„Na! Na! Nu! Und wenn’s auch zehnmal g’schrieben steht,“ fuhr Jörg mit einem Mal auf, die beiden Fäuste wider die Stirn pressend, „es kann nix nutzen – es kann ja nix nutzen!“

„Nutzen, Jörg, nutzen kann’s freilich nix mehr,“ fiel Gidi mit bewegter Stimme ein. „Da schaut sich jetzt ’s Unglück ehnder noch größer an, als wie’s z’erst schon war. Aber schau – drin im Grafenhaus kannst es ja kei’m net verargen. Denn so, wie alles g’wesen is, hat ja a jeder denken müssen, der Ferdl hat’s than! Und daß er sich g’flücht’ hat, das hat ja jeden noch b’stärken müssen in dem fürchtigen Verdacht. Und so – natürlich - der einzige, wo hätt’ sagen können, wie’s g’wesen is, der hat ja net reden können, der is dag’legen zwischen Leben und Sterben. Jetzt freilich – jetzt kommt alles Reden z’spat!“

Gidi verstummte und ließ sich mit einem müden Seufzer an der Seite des Bauern nieder, der noch immer regungslos am Tische saß, in grübelndes Sinnen versunken. Manchmal flog es über Jörg’s Gesicht wie der lichte Ausdruck hoffnungsvoller Gedanken, aber immer wieder verfinsterten sich seine Züge, und immer wieder raunte er vor sich hin: „Es kann ja nix nutzen – es kann ja nix nutzen.“

„Wann der Ferdl nur g’rad das eine net ’than hätt’! Wann er nur ’blieben wär’!“ fuhr Gidi mit jammernden Worten wieder auf. „Aber freilich – ich kann mir’s ja denken, wie’s ihm g’wesen is: 's Unglück von der Hanni muß ihn ja schon ganz auseinander ’bracht haben – und ’leicht hat er sich da ’denkt: der ’s schuld dran und der hat meine Schwester am G’wissen – und so rennt er hin zu ihm – und mein’ jungen Grafen, wie er hört vom Unglück, kommt der Jammer an – ich weiß ja, ich hab’s ja lang schon g’merkt g’habt, was ihm d’ Hanni gilt – und in der Schwächen, die ihn anpackt, thut er den unseligen Fall mit der Stirn g’rad auf den scharfen eisernen Thürhaken – und wie ihn der Ferdl auf amal so daliegen sieht, übergossen von Blut, schier als a Todter, da muß ihn ’s Grausen anpackt haben – ’leicht hat er sich auch gleich ’denkt: jetzt werden s’ sagen, ich hab’ ’s ’than – und da hat ihn halt der Schreck noch ganz um sein bißl Besinnung ’bracht – und so wird’s ihn davon ’trieben haben, daß er ’naus is zum Haus und fort und fort – g’rad heimzu allweil – allweil heimzu, ohne Denken und ohne Verstand. Und wer kann’s wissen – ’leicht hat er sich in seiner Verstörung noch eing’redt, als hätt’ er wahrhaftig a Schuld verübt! Du, Jörg, Du mußt ja wissen, was er Dir fürg’redt hat in derselbigen Nacht – und schau – da kannst nachher den Grafenleuten drin ihren Verdacht auch net so arg verübeln – denn wann Dich auf den Abend b’sinnst, wo bei mir droben g’wesen bist im G’schloß, da bast Du selber nix anders ’denkt, als daß der Ferdl wirklich –“

„Nix hab’ ich denkt! Nix! Nix! Gar nix!“ brauste der Bauer auf, wobei sich sein Gesicht verzerrte vor heller Angst. „Was damals g’redt is worden zwischen uns, das waren lauter Wenn und Aber! Und jetzt redst so zu mir! Na, na, den möcht’ ich sehen, der mir nachweisen kann – das heißt – ja – eins hab’ ich für g’wiß g’sagt: daß ihm recht g’schehen is, Dei’m saubern Grafen – so oder so! Und das sag’ ich heut’ noch, wo meiner Hanni ihr Grab schon grün verwachsen is – und saget’s ihm ins G’sicht, wann er da stünd’ vor mir –“

Jörg verstummte und blickte nach der Thür, welche hastig aufgerissen wurde. Die beiden Kinder stürmten in die Stube. „Vater, Vater, draußen is Einer, der fragt nach Dir,“ berichtete Pepperl, und das Liesei ergänzte. „Ja, Vater – a ganz a nobliger Herr“

„Um Gotteswillen,“ fuhr Gidi auf, „es wird doch net –“

Die Worte erstarben ihm auf den Lippen, vor Schreck und Freude. Einen Augenblick starrte er wie versteinert auf die schlanke, dunkelgewandete Gestalt des jungen Mannes, der, den Hut in der Hand, die offene Schwelle betreten hatte – starrte in das feine durchgeistigte Gesicht, das in Blick und Zügen von kaum überstandener schwerer Krankheit und von tiefem Leid erzählte, und wollte die Augen von der breiten Narbe nicht losbringen, die sich in dunkler Röthe von dieser weißen Stirn abhob und unter dem locker gescheitelten Haare sich verlor. Das helle Wasser sprang dem Jäger auf die sonngebräunten Wangen, er schlug die Hände in einander, und unter den stammelnden Worten: „Herr Graf! Herr Graf! Grüß’ Ihnen Gott, Herr Luitpold – grüß’ Ihnen Gott bei uns daheim, mein lieber Herr Graf!“ eilte er seinem jungen Herrn entgegen.

(Fortsetzung folgt.)     


Adolph Menzel.

Am 8. December d. J. vollendet der hervorragendste unter den deutschen Künstlern unserer Tage sein siebzigstes Lebensjahr: Adolph Menzel, dessen geistvollen Kopf mit den packenden Augen wir unsern Lesern im Abbilde vorführen. Das Wort Goethe’s:

„Wer mit seiner Mutter, der Natur, sich hält,
Find’t im Stengelglas wohl eine Welt,“

kann als der Wahlspruch seiner Kunst gelten, doch hat er nichts mit jenem geistlosen Naturalismus gemein, der das Höchste

geleistet zu haben wähnt, wenn er das Häßliche, das Seltsame und Abstoßende so häßlich, so seltsam und so abstoßend wie möglich mit mechanischer Treue und mit einigen blendenden technischen Bravourstückchen wiedergegeben hat. Er ist nur jenem ererbten Vorurtheil gegenüber getreten, welches in seiner Jugendzeit das Kunstschaffen und Kunstempfinden beherrschte, dem Vorurtheil, als ob nur eine beschränkte Auslese der Dinge in der Welt würdig und fähig wäre, von der Kunst behandelt zu werden, sei es, daß sie durch besondere Schönheit ausgezeichnet sind, oder daß eine tiefe oder sonst werthvolle „Idee“ in ihnen zur Erscheinung gelangt.

Auch Menzel verkennt den hohen Werth der Schönheit nicht, aber er verschmäht es, ihr Gebiet nach vorgefaßten Meinungen, die erfahrungsmäßig mit den Geschlechtern der Menschen wechseln, einzuengen, und wie man in allem Schönen eine gewisse Art von Zweckmäßigkeit als wesentliches Merkmal erkannt hat, so legt er mehr Werth auf das Charakteristische, d. h. die sinnfällige Uebereinstimmung zwischen der äußeren Erscheinung und der Bestimmung eines Gegenstandes, als auf das im gewöhnlichen Wortverstande sogenannte einfach Schöne, und er besitzt in ausgezeichnetem Grade die Gabe, die Formen der Natur, man möchte beinah’ sagen, der ersten besten Natur in dieser ihrer bedeutungsvollen Zweckmäßigkeit zu verstehen und Anderen verständlich zu machen.

Vor Jahren begegnete ich einmal dem kleinen Herrn und großen Meister mit meinem verstorbenen Freunde Alfred Woltmann zusammen auf dem Berliner Subskriptionsball, und Letzterer, der ein großer Verehrer weiblicher Schönheit war, ließ eine Bemerkung fallen des Sinnes, daß er nach dieser Richtung hin eine Enttäuschung erfahren habe. Da fuhr Menzel auf: „Ach was, Ihr redet immer von Schönheit! Wo findet man eine bessere Gelegenheit, um die Natur zu studieren, als hier!“ Und damit stürzte er sich wieder ins Gewühl, um mit seinen unfehlbaren Augen neue „Naturmotive“ zu sammeln.

Noch weniger als auf die Schönheit, die er nur mehr auf der Seite des Charakteristischen sucht, verzichtet Menzel auf die Weihe der Idee. Der schlagendste Beweis hierfür liegt in dem Umstande, daß wohl die Hälfte seiner ganzen künstlerischen Thätigkeit

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