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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Bilder von der Balkanhalbinsel.

Die Zarenstadt Tirnowo.

Nachdem die Türken sich als Sieger auf den Abhängen des Balkangebirges niedergelassen hatten, entstand im bulgarischen Volke die Sage, daß sein letzter Zar im Kampfe nicht gefallen sei, sondern im tiefen Verließ unter den Trümmern seiner Burg träumend schlafe und einst erwachen werde, um die Niederlagen seines Volkes zu rächen und die frühere Macht und Größe des bulgarischen Reiches wieder herzustellen. Fast ein halbes Jahrtausend war verflossen, bis jene symbolische Prophezeiung sich erfüllte und ein fremder Zar als Befreier die Balkankette überschritt, bis in der alten Zarenstadt Tirnowo der bulgarische Reichstag wiederum tagte und einen bulgarischen Fürsten wählte. In diesem langen Zeitraume war inzwischen das Ansehen der „Zarin der Städte“ gesunken, ihr Reichthum von den neuen Sitzen der türkischen Paschas überflügelt, aber auf den Trümmern der Fürstenburgen saß als treue Hüterin der Vergangenheit die altersgraue Sage und sang ohne Unterlaß unsterbliche Heldenlieder und flüsterte leise von lichten Hoffnungen und einer besseren Zukunft. Und wie wunderbar half die Natur dem Wirken und Schaffen der menschlichen Dichtung! Sie, die alles Verjüngende, wußte stets die Spuren blutiger Kämpfe zu tilgen, deckte frische Matten über die verwüsteten Abhänge, ließ breite Linden über den Kriegergräbern rauschen und lockte Nachtigallen in die duftenden Rosenhaine. Seit Jahrhunderten schauten also die schneeweißen Häupter der Balkanriesen in das herrliche Jantrathal hinab, in dem, von Hügel zu Hügel sich ausstreckend, die alte Stadt friedlich an den Ufern des rauschenden Stromes von früheren Kämpfen ausruhte.

Ansicht von Tirnowo.

Kein Wunder also, daß hier in Tirnowo am 19. Mai 1837 Moltke einen seiner „Briefe“[1] mit den Worten begann: „Was für ein wunderschönes Land ist doch dieses Bulgarien!“ Bald hierauf entwirft er eine kurze Schilderung des herrlichen Panoramas, welches vierzig Jahre später F. Kanitz[2] mit dem Zeichenstift festgehalten (vergl. unsere Illustration), und faßt sie in folgende knappe Worte zusammen: „Ich habe nie eine romantischere Lage, als die dieser Stadt gefunden; denke Dir ein enges Gebirgsthal, in welchem die Jantra sich ihr tiefes Felsbett zwischen senkrechten Sandsteinwänden gewühlt hat und wie eine Schlange in den seltsamsten und kapriciösesten Wendungen fortfließt. Die eine Wand des Thals ist ganz mit Wald, die andere ganz mit Stadt bedeckt. Mitten im Thale erhebt sich ein kegelförmiger Berg, dessen senkrechte Felswände ihn zu einer natürlichen Festung machen; der Fluß schließt ihn ein wie eine Insel, und er hängt mit der übrigen Stadt nur durch einen 200 Fuß langen und 40 Fuß hohen natürlichen Felsdamm zusammen, der aber nur breit genug für den Weg und die Wasserleitung ist. Ich habe eine so abenteuerliche Felsbildnng nie gesehen …“

So bewundert schon jeder Fremdling die schöne „Dornburg“ (Tirnowo), den Bulgaren aber erfaßt beim Anblick der vielen Kirchen und Klöster, der denkwürdigen Plätze und der Burgruinen noch ein anderes Gefühl. Stolz denkt er an die Zeiten, da hier seine Zaren regierten und gewaltig in die Schicksale der Balkanhalbinsel eingriffen.

Tirnowo ist jedoch keineswegs die Wiege der Bulgaren. Als jener kriegerische Stamm finnisch-ugrischer Abkunft die Donau überschritten und die an ihren Ufern wohnenden slavischen Völker unterjocht hatte, war zunächst Varna die Hauptstadt der siegreichen Eroberer. Erst als die Bulgaren slavische Sprache und slavische Sitten angenommen hatten und auf die Besiegten nur ihren Namen, ihren kriegerischen Geist und den sonderbaren „Drang nach Süden“ vererbten, wurde die fürstliche Hauptstadt mehrmals näher dem Balkan verlegt.

In wichtiger Zeit ward es Tirnowo beschieden, die Zaren von Bulgarien zu beherbergen.

Zu Anfang dieses Jahrtausends rückten die bulgarischen Heere über den Balkan und bedrohten die Sicherheit des in ewigen Fehden hin und her schwankenden byzantinischen Kaiserreichs. Es entbrannte ein vierzigjähriger blutiger Krieg, aus dem die Gestalten des Kaisers Basilios II. und des Zaren Samuel in düsterer Größe hervorragen. Im Jahre 1014 erfolgte die Entscheidungsschlacht bei Belasiza, in der das Bulgarenheer vernichtet wurde und 15 000 Krieger in Gefangenschaft des Kaisers geriethen.

Zar Samuel flüchtete nach Prilep, wohin ihm eine Botschaft Basilios’ II. folgte, die vielleicht einzig in der Geschichte dasteht und genügend die grausame Barbarei kennzeichnet, mit welcher damals auf der Balkanhalbinsel Kriege geführt wurden.

Basilios II. war ein starker, aber rauher und herzloser Charakter; mönchisch war seine Lebensweise, er lebte ohne Frau; Wein und Fleisch kamen nie auf seinen Tisch. Er war aber ein kluger Herrscher und gewandter Feldherr, dessen Leben ein unversöhnlicher Haß gegen die Bulgaren ausfüllte.

Dieser Mann ließ nach der Schlacht bei Belasiza die 15 000 gefangenen Bulgaren sämmtlich blenden, beließ jedem Hundert einen „Einäugigen“ als Führer und sandte sie so zu ihrem Zaren nach Prilep. „Als sie Samuel in so großer Menge so unmenschlich verstümmelt heranströmen sah, stürzte er besinnungslos zu Boden. Zum Bewußtsein gekommen,


  1. „Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835–1839“ von Helmuth von Moltke, Hauptmann im Generalstabe, später Generalfeldmarschall. Berlin 1882. Vierte Auflage.
  2. „Donau-Bulgarien und der Balkan“ von F. Kanitz. Renger’sche Buchhandlung, Leipzig 1882.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 725. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_725.jpg&oldid=- (Version vom 26.4.2024)