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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

No. 44.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Spielkätzchen.0 Nach dem Oelgemälde von F. Lafon. Photographie im Verlage von Lecadre u. Co. in Paris.

Mariann’s Bruder zählte sechsunddreißig Jahre, als sein Herz erwachte. Damals hatte er tief in den Bergen gearbeitet. Dort stand in einem engen, hochgelegenen Bergthale, das vom Dorfe sieben Wegstunden entfernt war, ein kleines Haus, das ein alter Köhler mit seiner jungen Tochter bewohnte. Der Holzknecht hatte das stille, freundlich-blickende Mädchen häufig gesehen, wenn es beim Kräutersuchen und Beerensammeln in die Nähe seines Arbeitsplatzes gekommen war – aber nie hatte er die Dirne angesprochen, wenngleich sie ihm wohlgefallen hatte vom ersten Blicke an. Da kam sie selbst eines Tages zu ihm: ihr Vater läge krank und sie wüßte sich nicht mehr zu rathen. Er ging mit ihr, wortlos – und er sah es gleich, daß dem Alten nicht mehr zu helfen war. Einen Tag und zwei Nächte saßen die Beiden am Lager des Sterbenden – und als es mit ihm zu Ende war, zimmerte der Holzknecht einen groben Sarg, legte den Todten hinein und trug ihn auf seinen Schultern nach dem eine Wegstunde höher gelegenen Wallfahrtskirchlein Mariaklausen. Als er wieder zurückkehrte, begann er für die Bedürfnisse des Mädchens zu sorgen. Die Beiden redeten mit einander, als hätte es nie eine Zeit gegeben, in der sie sich nicht gekannt, und bald wurde die Maid die Frau des Mannes und gebar ihm nach einem Jahre ein Mädchen, das der alte Kaplan von Mariaklausen auf den Namen Eva taufte.

Das Kind war der Abgott des Vaters, und seine liebevolle Fürsorge für das herzige Wesen, in dem alle guten Eigenschaften des Vaters und der Mutter vereinigt schienen, verdoppelte sich noch, als er im sechsten Jahre seines Glückes sein junges Weib verlor. Von nun an mußte der Vater seinem Kinde die Mutter ersetzen; das hielt in den ersten Wochen wohl schwer, aber die Liebe lehrte es ihn. An schönen Sommertagen nahm er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 717. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_717.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2024)