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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Unruhige Gäste.

Ein Roman aus der Gesellschaft.
Von Wilhelm Raabe.
(Schluß.)


22.

Phöbe ist nicht zu Hause gewesen, als der andere Brief nebst der kleinen Kiste aus Italien ankam. Beides war auch nur an den Pastor, Herrn Prudens Hahnemeyer adressirt, und es stand bei diesem, ob er der Schwester von dem Inhalt Mittheilung machen wollte oder nicht.

Im Dorf hat Niemand dem Fräulein aus dem Pfarrhause anmerken können, daß und – was Fräulein Dorette Kristeller geschrieben hatte. Es war, wie immer um diese Jahreszeit, wieder viel Noth und Hilflosigkeit unter den armen Leuten, und man kann nicht von Jedem verlangen, daß er Geduld in schweren Tagen habe. Es ist recht häufig viel besser, die Bedrängten sich ausreden und ausschreien zu lassen, als ihnen zur Geduld zu reden und zu rathen.

Zu keiner Zeit in diesem zu Ende gehenden Jahr war Phöbe Hahnemeyer so zum erstern befähigt gewesen als an diesem stürmischen Tage; sie, die heute zu den Bedrücktesten nicht nur in der ganzen Gemeinde, sondern auch unter allen übrigen unruhigen Gästen der Erde zu zählen gewesen wäre, wenn sie das volle Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit, des Alleinseins in der Welt, wie es ihr zukam, hätte haben können.

Sie aber wußte nur, daß sie Alle es so gut mit ihr meinten, und daß sie sehr dankbar und nach schwachen Kräften hilfreich dafür zu sein habe, wenn auch Niemand recht Bescheid um sie wisse – auch die alte, treue – neue Freundin, Fräulein Dorette Kristeller nicht. –

So ist die Gnade, oder wie ihr gelehrt wurde zu sagen, die Gnade des Herrn auch über ihr gewesen in dieser bösen Zeit ihres jungen Daseins unter uns Anderen, und sie ist still auch von ihren heutigen Barmherzigkeitswegen in der Gemeinde ihres Bruders zu ihm nach Hause gekommen.

Das war gerade um die Stunde, als Spörenwagen genug von der Gesellschaft und Unterhaltung des Dorfkrugs hatte und durch den Wind, Regen und Schnee seinen auch einsamen und beschwerlichen Weg nach seiner Wohnung der Jahreszeit abkämpfte. In der Dorfgasse sind sie auch einander begegnet oder vielmehr an einander vorbeigekommen, Phöbe und der Meister Tischler. Sie haben aber einander bei der Dunkelheit und dem Sturm nicht erkannt und also auch nicht ein Wort miteinander reden können, obgleich gerade jetzt Jedes von den Beiden des Andern gedachte und in seinen Gedanken von ihm oder mit ihm redete.

„Spörenwagen geht morgen ins Thal hinab,“ dachte Fräulein Phöbe. „Ich will ihn bitten, daß er auch zu Fräulein Dorette geht und ihr sagt, daß ich ihr von Herzen dankbar für ihren Brief bin, daß ich ihr aber lieber nicht gleich darauf Antwort schicken möchte und es auch nicht kann, und lieber wieder einmal in der Stille bei ihr sitzen möchte. O wie Recht hat sie, daß sie mich auf den hohen Winterschnee hinweist! Und es ist auch vorher noch für so Vieles zu sorgen, daß es uns nicht wieder so geht wie damals im ersten Jahr, wo uns fast alle Vorräthe ausgingen, ehe wir zu den Nachbarn und ihrer Hilfe wieder einen Pfad hatten. Wie schön ruhig wollen wir sitzen hinter unsern weißen Mauern, und ich will auch recht fleißig sein mit Prudens an der englischen und der arabischen Grammatik, wenn es vielleicht, wie er meint, des Herrn Wille ist, daß er auch mich in die Fremde beruft und mir nicht hier mein letztes Ziel setzt und meine ewige Ruhe giebt in seiner Gnade.“

Spörenwagen, auf der andern Seite der Dorfstraße und in entgegengesetzter Richtung sich vor dem Wind dicht an Mauer und Zaun haltend, brummte:

„Jedes Wort, das man in das Geschwätz geben könnte, ist zu viel. Man schüttelt sich eben und trinkt aus und geht seiner Wege, und hinter Einem drein sagen sie: der Querkopf! … Ja, über das Hinterdreinreden bei Vornehm wie Gering – ’s ist immer wie ein schöner Buttervogel, ein schöner Schmetterling, den die Buben zerpflücken! Was wissen Bruder und Schwester, Mutter und Kind, Mann und Frau von einander? Und von mir reden sie und meinen sie, daß ich Alles in der Welt mit einem großen Hobel glatt und gleich machen wolle?! In einer Welt, wo von Anfang an so ein Unterschied gesetzt ist wie zwischen meinem Fräulein – Fräulein Phöbe und dem Räkel und dem Herrn Bielow und ihrem Bruder, dem Herrn Pastor Hahnemeyer und uns allen Anderen! … Und es ist doch die Welt, von der geschrieben steht: Es ist nicht gut, daß der Mensch in ihr allein lebe und bleibe. Wer kriegt da mit allem Nachsinnen und Studiren einen Verstand herein? einen Sinn, bei dem er sich beruhigen kann, wenn er für sich allein ist und sitzt, weil er sich in dem Wirrwarr nicht zurecht finden kann, wie ich?! Ja das giebt man sich nicht, das wird Einem gegeben. Und wer die Gabe hat, der weiß nichts davon; als wie ein Mensch nichts davon verspürt, wenn er gesund ist. Und als ein solcher Mensch geht unser Fräulein, unsere Phöbe über die Erde, und wer darüber nachdenkt, der findet kein Ende und steht von ferne und sieht sie und wundert sich wie über das allergrößeste Wunder. Und bei seiner Arbeit faßt er höchstens mit der Faust ins Brusttuch, wenn er daran gedenkt, so gab’s noch eine Andere, die so hätte sein können und von der sie eben vor den Ohren des Räkel’s mit ihrem Ekelnamen als wie seiner Fee diskurrirten! Da geht es sich freilich gut gegen den Wind und Sturm an in dem Gedanken: was kümmert’s Dich noch, Spörenwagen? sie ist ja jetzt auch im Frieden und es thut ihr Niemand mehr was, weder in Freundschaft noch in Bosheit, weder ihr ins Gesicht und die innerste Seele noch hinter ihr drein. Sie ist frei vom Wirrwarr, und kein Lärm thut ihr noch was zu Leide. Geh Du Deines Weges nach Hause, Kamerad, Spörenwagen, der Regen, Schnee und Wind ins Gesicht ist nicht das Schlimmste auf ihm. He, es ist aber fast als um nicht das Stehen zu behalten!“ …

In seiner Studirstube wurde der Pastor Prudens Hahnemeyer dieses heftigen Wehens wegen von Minute zu Minute nervöser. Er schritt hin und her nach seiner Gewohnheit. Er trat an das Fenster, an dem er im Sommer mit seinem Jugendfreunde Veit von Bielow gestanden und ihm von diesen herbstlichen und winterlichen Stürmen gesprochen hatte. Er ging zu seinem Tisch zurück und setzte sich, um von Neuem aufzuspringen und vom Fenster aus in die Nacht und auf die jagenden Sturmwolken zu blicken. Er ärgerte sich ob dieser körperlichen Unruhe, die er vergebens niederzukämpfen suchte, gegen die er sich völlig machtlos fühlte. Fast wäre er im Stande gewesen, auf die Schwester zu zürnen, daß sie ihn so lange allein im Hause lasse, er, der bei stillerem Wetter am liebsten allein blieb in seinem Grübeln und seinem mystischen Träumen und auch die kleinste Störung durch die Zeitlichkeit, selbst auch durch den leisen Schritt und die süße Stimme der armen Phöbe, nicht immer mit der größten Geduld aufnahm.

Am heutigen Abend thaten aber auch der Brief und die Sendung, die aus der Zeitlichkeit, aus dem Säkulum, zu ihm gelangt waren, das ihrige, ihn nach der Heimkehr der Schwester von ihren Liebeswegen in seiner Gemeinde verlangend zu machen. Der Brief lag auf seinen Schriften, und das geöffnete Kistchen stand daneben auf der aufgeschlagenen Konkordanz, und der asketische Pfarrer wußte, daß sie ihm diesmal, wenigstens für die nächsten Stunden und vielleicht auch die kommende Nacht eine größere Störung in sein Leben getragen hatten, als die wildeste Windsbraut seines nordischen Gebirges je vermocht hätte.

Der Brief kam aus Palermo auf der Insel Sicilien und lautete:

„Mein guter Freund, da bin ich noch einmal! Noch einmal wirft mein Schiff Anker an Patmos, und der Mensch aus dem Säkulum, der Mann vom römischen Forum, der Lustwandler aus den Platanengängen der athenischen Akademie steigt zu Lande, hüstelnd, kniematt, auf seinen Krückstock gestützt. Deutlich male ich mir das Gesicht, das Du auch diesmal zu dem Besuch machen wirst; aber beruhige Dich: ich gebe nur ein Packet zur Weiterbeförderung ab und gehe sofort wieder. Dein verdrossenstes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_622.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2024)