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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

gedacht. Als das Haus in Flammen gestanden habe, sei sie zwar betrübt gewesen, aber ihre Angst sei geschwunden. Das Vorhandensein eines solchen Brandstiftungstriebes wurde schon Ausgangs vorigen Jahrhunderts in einem Falle von der medicinischen Fakultät in Leipzig anerkannt und später durch das preußische Ministerium geradezu gesetzlich sanktionirt, indem dasselbe ein Reskript an die Gerichte erließ, daß bei allen Brandstiftungen, wo der Thäter in den Jahren der eintretenden Pubertät sich befinde, namentlich im zwölften bis zwanzigsten Jahre, das Gutachten Sachverständiger vor Abfassung des Erkenntnisses einzuholen sei. Später erhob sich in medicinischen Kreisen Widerspruch gegen die Annahme eines besondern Brandstiftungstriebs. Der Medicinalrath Casper, eine bedeutende Autorität auf dem Gebiete der gerichtlichen Medicin, veranstaltete als Mitglied des Medicinalkollegiums in den fünfziger Jahren die Rücknahme jener Bestimmung. Er suchte in den einzelnen Fällen die That auf bestimmte Motive zurückzuführen, auf den Wunsch aus dem Dienste zu kommen, auf das Gefühl der Rache, die Sucht sich geltend zu machen u. dergl. Die neuere Medicin scheint sich nach verschiedenem Für und Wider jetzt dahin zu entscheiden, daß sie die Pyromanie nicht als besondere Geisteskrankheit, sondern nur als einzelnes Symptom einer solchen gelten lassen will. Auf dieselbe Grundlage führt sie dann auch die Kleptomanie und andere Monomanien zurück.

Zeichnet sich diese Kategorie von Verbrechern durch das Fehlen eines eigentlich verbrecherischen Motivs aus, so geschieht bei andern das geradezu Unglaubliche, daß sie morden nicht aus Haß, sondern geradezu aus Liebe zu den Gemordeten. Wir meinen damit jene Morde der eigenen Kinder, wie sie jetzt in unseren Großstädten in erschreckender Weise sich mehren. Der entsetzliche Fall des Tapezirer Schultze in Berlin, der erst seinen beiden älteren Töchtern den Hals durchschnitt, dann dasselbe an seinen beiden Knaben, sowie an sich selbst versuchte, steht leider nicht vereinzelt da. Holtzendorff nennt solche Fälle mit Recht die modernen Schicksalstragödien des wirthschaftlichen Ruins. Es sind gerade meist die besseren Naturen, welche, auf „der letzten Sprosse der Verzweiflung“ über den unfruchtbaren Kampf mit dem Dasein angekommen, von aufrichtiger Liebe zu den Ihrigen getrieben, anstatt wie Andere sie zu verlassen, sie durch einen gemeinsamen Tod vor Schande, Armuth oder Almosen bewahren wollen. „Ich beschloß, meine Töchter zu tödten, damit sie nach meinem Tode sich nicht allein in der Welt herumstoßen lassen müssen,“ sagte der genannte Schultze. Der Mord der geliebten Angehörigen erscheint fast immer in Verbindung mit dem geplanten Selbstmorde, der in Folge eintretender Schwäche dann meist nicht zur Ausführung kommt. Durch äußere Schicksalsschläge und innere seelische Zerrüttung unfähig geworden, den Kampf mit dem Leben fortzuführen, sieht der unselige Vater das gleiche Schicksal auch bei den Kindern voraus und weiß in seiner Angst und Bedrängniß keinen andern Weg, als den er selbst einschlägt. Der Arzt ist hier oft in der Lage, den Nachweis einer krankhaften Schwermuth (Melancholie) zu führen und damit diese Unglücklichen der strafenden Gewalt des Richters zu entziehen und der Irrenanstalt zu übergeben.

Außer den krankhaften Trieben giebt es auch noch gewisse Zustände, welche die Begehung von Verbrechen besonders begünstigen. Als ein solcher wird zunächst die Schlaftrunkenheit angegeben. Hier spielt namentlich der Fall des Landwirths Schidmeitzig eine Rolle. Schidmeitzig legt sich nach reichlicher Mahlzeit im Sommer in einen Schuppen zum Schlaf nieder. Um Mitternacht erwacht er aus tiefem Schlafe und sieht im Augenblicke des Erwachens eine weiße Erscheinung dicht an seinem Lager. Er ruft zweimal „Wer da?“, ergreift, da diese nicht antwortet, die nebenliegende Axt und erschlägt damit die eigene Frau, die an sein Lager getreten ist. Oder der noch entsetzlichere Fall, wo eine Mutter ihren Säugling durch das geöffnete Fenster wirft, weil ihr im Traume Stimmen zugerufen hatten, das Haus brenne.

In allen diesen Fällen ist die Zurechnungsfähigkeit ausgeschlossen, denn das Handeln des Schlaftrunkenen ist recht eigentlich entstanden aus der auf Wahnvorstellung beruhenden Verrückung des Selbstbewußtseins. Bei den Schlaftrunkenen, sagt ein medicinischer Schriftsteller, sind zwar die Sinne bereits erwacht, aber noch umhüllt vom Nebel traumhafter Gebilde. Nicht das Bewußtsein, sondern dunkle unklare Ahnungen und Empfindungen sind es, welche sein Handeln bestimmen.

Auch der vielfach noch unaufgeklärte Fall des Schlafwandelns würde einer dem entsprechenden Beurtheilung unterliegen.

Selbst die Empfindung des Heimwehs kann in ihrer höchsten krankhaften Steigerung die Mutter von Verbrechen werden. Das Heimweh erklärt eine ärztliche Autorität als die traumhaft fixirte Sehnsucht nach der Heimath, nach Verwandten und Freunden. „Es erzeugt allerlei krankhafte Zustände: Herzklopfen, Angst, schwachen Puls, Kongestionen, Verdauungsbeschwerden. Die Thatkraft des Sehnsüchtigen erschlafft; er sucht einsame Orte auf. Alles, was dahin führen kann, ihm die Rückkehr in die geliebte Heimath zu erwirken, wird versucht; zuletzt selbst Brandstiftung und Mord. Ein junges Mädchen diente in einem fremden Orte als Kindermädchen; sie sehnt sich nach Hause, aber die Mutter schreibt ihr, sie dürfe nur kommen, wenn das ihrer Pflege anvertraute Kind gestorben wäre. Hierauf wird das Kind krank und stirbt. In der Familie ist aber noch ein dreijähriger Knabe. Dem Mädchen wird nunmehr die Pflege dieses Kindes anvertraut. Sie muß in Folge dessen bleiben. Da findet man auch diesen Knaben todt, in seinem Bette erstickt. Dem Heimwehtrieb waren zwei Menschenleben zum Opfer gefallen.

Hier kann auch folgender Fall, von dem der oben genannte Maudsley berichtet, herangezogen werden:

Es ist die Krankengeschichte eines jungen Mannes, der an einer gewissen Geistesschwäche litt, sich durchaus kindisch betrug und für Windmühlen ganz eingenommen war: er konnte weit hingehen, um eine Windmühle zu sehen, und tagelang im Anschauen einer solchen dasitzen. Man erwartete bei ihm Besserung von einer Ortsveränderung und brachte ihn in einen Bezirk, wo keine Windmühlen waren. Das eine Mal legte er in dem Hause, wohin er gebracht worden war, Feuer an, ein anderes Mal lockte er ein Kind ins Holz und versuchte es zu morden, indem er dessen Glieder ganz schrecklich mit einem Messer zerschnitt und zerfetzte. Derartige gefährliche Triebe hatten sich früher noch nicht bei ihm gezeigt, ihr einziger Grund bestand eben darin, daß der Mann fort wollte von jenem Orte, wo es keine Windmühlen gab.

Auch überreizte religiöse Gefühle bringen dem Wahnsinn nur zu oft ihren Zoll. Die Ausgeburten des religiösen Fanatismus mit ihren blutigen Autodafés möchte man schon um der Ehre der Menschheit willen auf das Konto der geistigen Störungen setzen. In kleineren Verhältnissen wird, namentlich für den gewöhnlichen Mann, der im Denken nicht genügend logisch geschult ist, das Grübeln über religiöse Dinge oft sehr verhängnißvoll. Dem Verfasser sind mehrere Fälle aus eigener Erfahrung bekannt. So hatte ein Zeugmacher in M. an der Hand gewisser Schriften sich in den Gedanken vertieft, daß die kommunistischen Ideen schone im Christenthum sich verwirklicht fänden, Christus galt für ihn als der erste Socialdemokrat. Nun begann er Tag und Nacht die Bibel zu lesen, vernachlässigte sein Geschäft, trieb sich viel in Wirthshäusern herum und hielt dort gotteslästernde Reden. Der Mann war, wie sich beim Verhör ergab, sonst ganz vernünftig und klar, sobald aber das religiöse Gebiet bei ihm in Anregung gebracht wurde, hörte sofort alles folgerechte Denken auf. Er schwatzte das verwirrteste Zeug, warf einzelne Aussprüche der Bibel blind durch einander etc. Auf Veranlassung des Physikatsarztes wurde die Untersuchung gegen ihn eingestellt und er dem Irrenhause überwiesen.

Daß auch der Aberglaube die Frucht wahnsinnigen Handelns erzeugt, dafür bietet die Geschichte ebenfalls zahllose Beispiele, die selbst unsrem aufgeklärten Zeitalter nicht erspart bleiben. Interessant sind in dieser Beziehung die Gerichtsakten, welche die Untersuchung gegen den Tischlermeister J. und Sohn behandeln. Die Frau des Genannten litt seit längerer Zeit an Beängstigungen und hysterischen Zufällen. Sie bildete sich ein, eine Hexe habe von ihr Besitz genommen, und wohne in ihrem Leibe. Sie bezeichnet sogar eine bestimmte Person als solche. In der Steigerung ihres Wahn- und Angstgefühls bittet sie ihren Ehemann und erwachsenen Sohn darum, dieselbe durch Schläge auf ihrem Körper auszutreiben. In wahnwitziger Verblendung ihres mit der Frau getheilten Aberglaubens vollziehen Beide das Verlangen der Unglücklichen. Der Wahn der letztern ist dabei so stark, daß sie, trotz der furchtbaren Schläge, die sie erhält, ihre Peiniger nur noch anreizt, dieselben zu verstärken, bis sie unter deren Last die gequälte Seele aushaucht.

(Schluß folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 392. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_392.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2024)