Seite:Die Gartenlaube (1885) 391.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Leute, die niemals Gelegenheit hatten, Irrsinnige zu beobachten, und auch unfähig sind, über die geheimnißvollen und räthselhaften Erscheinungen des Wahnsinns zu urtheilen, fürchten, daß der Schutz, den das Gesetz dem Kranken bietet, mißbraucht werde, und tragen viel dazu bei, daß noch heute die öffentliche Meinung dort Vergeltung fordert, wo von einer Schuld nicht die Rede sein kann.

Der Arzt urtheilt allerdings anders. Er kennt die Formen des Wahnsinns, in denen weder fremder Zuspruch noch eigener Wille die wahnwitzigen Ideen zu beeinflussen vermag, und er giebt dem Dichter Recht, der Hamlet so einfach und doch beredt sich vertheidigen läßt:

„War’s Hamlet, der Laërtes kränkte? Nein,
Wenn Hamlet seinem eignen Selbst entrückt ist
Und, wenn er nicht er selbst, Laërtes kränkt,
Dann thut es Hamlet nicht, Hamlet verneint es.
Wer thut es denn? Sein Wahnsinn. Steht es so,
Dann ist ja Hamlet selber mitgekränkt,
Sein Wahnsinn ist des armen Hamlet Feind.“

Die Geschichte der Rechtspflege berichtet übrigens von einer großen Zahl von Verbrechen, bei denen selbst der Laie an der Zurechnungsfähigkeit der Thäter zweifelt, weil man bei ihnen vergebens nach einem inneren, egoistischen Beweggrunde sucht oder weil dieser Beweggrund selbst ein so geringfügiger ist, daß er gar nicht im Verhältnisse steht zu der Größe der That und der vernichtenden Macht ihrer den Thäter treffenden Folgen. Wir erinnern uns da an jene großen und kleinen Tyrannen der Menschheit, welche um nichts ganze Hekatomben von Menschenleben vernichteten; erinnern uns an die furchtbaren Giftmischerinnen, die Zwanziger, Jäger und Gesche Gottfried und neuerer Zeit Marie Janneret, welche ihre Männer, Kinder, Verwandte und Freunde mordeten aus keinem andern Grunde, als aus Wohlgefallen am Morden, weil es ihnen Vergnügen bereitete, Leiden und Tod anzuschauen. Da erzählt die neuere Casuistik von jenem Freiherrn, der, einem plötzlichen Impulse folgend, einen Menschen wie einen Sperling vom Dache herunterschießt; von dem Augsburger Karl Bertle, der nach einander fünfzehn Mädchen nächtlich auf der Straße mit Dolchen verwundet, ohne einen andern Grund dafür angeben zu können, als seinen unwiderstehlichen Trieb, Jemand zu verletzen. Eine arme Tagelöhnersfrau empfand mit einem Male einen solchen Haß gegen ihr Kind – „es wurde,“ sagte sie beim Verhöre, „mir so gram“ – daß sie sich erst völlig anzog, dann das Rasirmesser des Mannes vom Kamin holte, das Kind auf den Schoß nahm und ihm den Hals abschnitt.

Man hat dabei von einem krankhaften unwiderstehlichen Triebe zum Morden, einer Mordmanie, gesprochen; die medicinische Wissenschaft versuchte diese räthselhafte Erscheinung zu erklären, und es gelang ihr, wenigstens ein genaues Bild dieser schauervollen Form des Irrsinns zu entrollen, das dem Arzte die Möglichkeit bietet, wirkliche Krankheit von gemeiner mit Verstellung gepaarter Rohheit zu unterscheiden. Wir wollen im Nachstehenden einige solcher Krankengeschichten wiedergeben, die düster und unheimlich erscheinen und aus denen wir lernen, daß jene Unglücklichen, die gewöhnlich verabscheut werden, in der That das tiefste Mitleid verdienen.

Maudsley, der berühmte englische Irrenarzt, citirt in seinem auch ins Deutsche übertragenen Werke: „Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken“ folgenden Fall.

Einmal konsultirte ihn ein Herr von fünfzig Jahren, ein kräftiger ungemein muskulöser Mann, der ein durchaus thätiges Leben geführt und in seinen Geschäften die meisten Welttheile besucht hatte, aber bereits seit ein paar Jahren aus der Geschäftsverwaltung ausgetreten war. Ihn peinigte ein furchtbarer Mordtrieb, der ihn fortwährend heimsuchte und manchmal so mächtig hervortrat, daß er sich veranlaßt fand, getrennt von der Familie zu leben und aus einem Hôtel ins andere zu ziehen, um nicht ein Mörder zu werden. Er war niemals ganz frei, aber der Mordtrieb that sich zu verschiedenen Zeiten mit ungleicher Mächtigkeit hervor. Am besten ist es, erzählte der Kranke, wenn nur die Idee auftritt, womit er sich fortwährend beschäftigen muß, ohne daß es ihn treibt, diese Idee auch wirklich auszuführen, wenn also eher die Mordidee als der Mordtrieb obwaltet. Aber zwischendurch äußert sich der Mordtrieb paroxysmusartig; es drängt sich das Blut nach dem Kopfe, der schwer und verwirrt ist, der Mann fühlt sich ganz und gar verlassen, zittert am ganzen Leibe und wird mit kaltem Schweiße bedeckt; dann stürzen ihm die Thränen hervor und er fühlt sich ganz erschöpft. Nicht selten kommen solche Paroxysmen während der Nacht; er springt dann in furchtbarer Angst aus dem Bette, zittert aufs heftigste am ganzen Körper und trieft von Schweiß. So schilderte der Mann seinen unglücklichen Zustand, von dessen Vorhandensein jeder, der die Geschichte mit anhörte, hätte überzeugt werden müssen; die Thränen stürzten ihm während der Erzählung hervor, und er weinte bitterlich. Der Mann zeichnete sich durch Entschiedenheit im Wollen und durch einen energischen Charakter aus, und von intellektueller Störung war nichts an ihm zu merken, ausgenommen, daß er leicht grundlosen Verdacht schöpfte und Mißtrauen hegte. Wenn er auch sonst sich ganz beherrschen konnte, so vermochte er dies doch nicht in dem einen Punkte; ihn beherrschte ein moralischer Fehler, der recht wohl sein Nervensystem schädigen und seinen jammervollen Zustand einigermaßen erklärlich machen konnte.

Charakteristisch für diese Form des Irrsinns ist auch die nachstehende Krankengeschichte einer zweiundsiebzigjährigen Dame, die in ihrer Familie mehrere Irrsinnige zählte. Sie litt an immer wiederkehrenden Paroxysmen großer Erregtheit, während deren sie jedesmal ihre Tochter zu erwürgen versuchte, die doch nur Güte und Aufmerksamkeit gegen sie an den Tag legte und an der sie selbst voll Liebe hing. Für gewöhnlich saß sie ruhig und gedrückt da, klagte über ihren Zustand und schien so schwach zu sein, daß sie sich kaum rühren konnte. Plötzlich sprang sie aber in Erregtheit empor, aufschreiend, sie müsse es thun, und stürzte auf die Tochter los, um sie zu erwürgen. Während des Paroxysmus entwickelte sie solche Kraft, daß eine einzelne Person sie kaum zu halten vermochte. Aber schon ein paar Minuten, nachdem sie zu ringen angefangen, sank sie erschöpft hin, nach Luft schnappend, und rief: „Her! Her! ich habe es euch gesagt; ihr glaubt nicht, wie böse ich war.“ Von einem Irrwahne war nichts bei ihr wahrzunehmen; die Paroxysmen nahmen sich ganz so aus, wie ein konvulsivisches Ergriffensein der Geistesthätigkeiten. Die Person war deßhalb ganz unglücklich, weil sie zu einer schrecklichen Handlung angetrieben wurde, auf die sie nur voller Abscheu blickte.

Die Qualen, welche die von der Mordmanie Heimgesuchten erdulden müssen, sind in der That so unerträglich, daß oft diese Bedauernswerthen, um dem furchtbaren Konflikt in ihrem Innern ein Ende zu machen, sich das Leben nehmen.

Eine der geschilderten verwandte Erscheinung ist die, daß manche Personen ohne allen Eigennutz stehlen. So erzählt der französische Arzt Giraud von einer gebildeten Frau, die ein reichliches Auskommen hatte, gleichwohl aber in allen Kaufläden stahl, welche sie betrat. Casper erwähnt den Fall einer Erzieherin, welche aus bloßer Lust „am Klange des Metalls“ Geld stahl. Ein junges gebildetes Mädchen aus bester Familie nahm Alles, was ihr Auge reizte. Man fand bei ihr Sacktücher, Fingerhüte, Halstücher, Strümpfe, Handschuhe etc. Unter Thränen der Reue gestand sie ihr Vergehen, versprach, ihren Trieb zu beherrschen, und stahl doch immer wieder. Lavater berichtet von einem Arzte, der nie das Zimmer seiner Kranken verließ, ohne etwas mitzunehmen. Seine Frau untersuchte deßhalb jeden Abend seine Taschen und fand in denselben regelmäßig Scheeren, Löffel, Messer, Etuis, welche sie den Eigenthümern heimlich wieder zuschickte. Nach der Wegnahme der Sachen pflegt sich der Trieb zu legen; die Sachen selbst haben für den Stehlsüchtigen keinen Werth mehr, er wirft sie achtlos bei Seite. Man nahm deßhalb einen krankhaften Stehltrieb an (Kleptomanie).

Eine weitere verwandte Kategorie bildet der Brandstiftungstrieb, die Pyromanie. Man führte diesen Trieb auf die Erfahrungthatsache zurück, daß eine große Anzahl von Brandstiftungen von jungen Leuten verübt wird, die in der Zeit der Pubertäts-Entwickelung stehen. In meiner eigenen Praxis wurde mir ein junger Mensch von vierzehn Jahren vorgeführt, der drei Brände nach einander in seiner Heimath angezündet hatte. „Als ich ein Zündhölzchen sah,“ lautete seine Aussage, „da kam mir der Gedanke: das muß anbrennen. Besondres Wohlgefallen hatte ich an den Bränden nicht, vielmehr habe ich es hinterher allemal bereut, allein wenn die Zeit kam, hat es mich mit Gewalt dazu getrieben, wieder Feuer anzulegen.“ Ein sonst ganz gutartiges Dienstmädchen von siebzehn Jahren erklärte, sie habe immer die Angst und den Trieb bekommen, Feuer anzulegen. An die Folgen ihrer Handlung habe sie nicht

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_391.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2024)