Seite:Die Gartenlaube (1885) 305.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

No. 19.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


26.

Oben im Salon kreischte und schimpfte der Papagei beim Eintreten Margaretens; sie hatte von Kindheit an das boshafte, verhätschelte Thier nicht leiden können, und das wußte Papchen sehr gut.

„Sei artig, mein Liebling, mein Goldchen!“ schmeichelte die alte Dame. Sie reichte dem Schreier ein Biskuit und liebkoste ihn, dann nahm sie langsam und bedächtig die Kapotte von ihrem Spitzenhäubchen und den Umhang von den Schultern und legte Beides sorgfältig zusammen.

Margarete wurde bald roth, bald blaß vor innerer Unruhe und Aufregung; sie biß sich auf die Lippen, aber kein Wort entschlüpfte ihr; sie kannte ja diese fingirte Gelassenheit – die Großmama zeigte sich nie kälter und bedächtiger, als wenn sie innerlich erregt war.

„Nun, ich glaubte, Du habest mir wunder was für weltumstürzende Mittheilungen zu machen,“ sagte die alte Dame endlich über die Schulter nach ihr hin, während sie langsam den Kasten zuschob, in welchen sie Kapotte und Umhang gelegt hatte; „statt dessen stehst Du am Fenster und siehst über den Markt hin, als zähltest Du die Eiszapfen an den Dachrinnen.“

„Ich erwarte, daß Du mich fragst, Großmama,“ erwiderte das junge Mädchen ernst. „Wäre ich doch so ruhig, um mich so harmlos beschäftigen zu können, wie Du meinst! Aber an mir bebt jeder Nerv.“

Die Großmama zuckte die Achseln. „Das hast Du Dir selbst zuzuschreiben, Grete! Dein Vorwitz ist bestraft – Du hattest im Packhause nichts zu suchen ... Ich war auch erschrocken, als uns der Mensch mit seiner unerhörten Behauptung plötzlich wie vom Himmel herunter ins Haus fiel, aber in meinen Jahren geht der Kopf mit dem Schrecken nicht mehr durch. Ich erkannte sehr schnell den Schwindel und habe dem gewiegten Juristen, meinem Sohn, der sich merkwürdigerweise düpiren ließ, vorausgesagt, wie es kommen mußte. Der Alte kann seine Behauptung nicht aufrecht erhalten, weil ihm all und jede Begründung fehlt. Er hat sich auf den Nachlaß Deines seligen Vaters berufen – aber was brauche ich Dir das Alles zu sagen?“ unterbrach sie sich. „Da weißt es ja aus dem Munde Deines Protégés selbst; natürlicherweise unter der Beleuchtung, die er der Sache zu geben beliebt, denn sonst würdest Du vorhin nicht behauptet haben, seine Ansprüche seien gerecht.“

Margarete war lautlos über den Teppich hingeglitten, und jetzt stand sie ganz entfärbt vor innerer Erschütterung, wie ein Geist vor der alten Dame. „Daß jene Ansprüche vollkommen gerecht und begründet sind, weiß ich aus einem anderen Munde, Großmama – aus dem meines Vaters,“ sagte sie mit bebender Stimme.

Die Frau Amtsräthin prallte zurück. Im ersten Moment sprachlos vor Bestürzung, starrte sie die Enkelin mit weitoffenen, entsetzten Augen an.

„Bist Du von Sinnen?“ stieß sie endlich hervor. „Du wirst mir doch nicht Dinge weismachen wollen, die kein vernünftiger Mensch glauben kann? Dein Vater!


Unser Junge. Nach dem Oelgemälde von C. von Bergen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_305.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)