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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

„Erlauben Sie, daß mein Enkel die Hand küßt, die –“ der alte Maler kam nicht weiter, so bescheiden er auch seine Bitte vorbrachte.

„Das geht nicht, Lenz – so verständig sollten Sie doch selbst sein!“ unterbrach ihn der junge Mann kurz abweisend. „Was hätte denn werden sollen, wenn alle unsere Arbeiter mit diesem Ansinnen an uns herangetreten wären? Und Sie werden mir doch zugeben, daß Ihr Enkel nicht um ein Titelchen mehr Rechte hat, als die Kinder unserer anderen Leute –“

„Nein, Herr Lamprecht, das kann ich Ihnen nicht zugeben,“ versetzte der alte Mann rasch. Das Blut stieg ihm dunkel in das Gesicht. „Der Herr Kommerzienrath war –“

„Mein Gott, ja,“ gab Reinhold mit einem ungeduldigen Achselzucken zu; „der Papa war allerdings oft unbegreiflich nachsichtig; aber so wie er im Grunde dachte, läßt es sich durchaus nicht annehmen, daß er dem Jungen eine solche intime Annäherung im Beisein vornehmer Freunde –“ er zeigte nach dem Salon zurück – „gestattet haben würde. Ich muß ihn deßhalb auch zurückweisen … Geh’ Du nur hin!“ – er schob das Kind an den Schultern weiter und zeigte nach dem Ausgang. „Dein Handkuß ist nicht vonnöthen!“

Margarete schlug empört die schwarze Gardine aus einander und trat aus der Fensternische. In demselben Augenblick kam aber auch Herbert eisigen Schrittes aus dem Salon – er hatte in der Nähe der Thür gestanden. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er den Knaben an der Hand und führte ihn an Reinhold vorüber, die Stufen hinauf.

„Lieber auf den Mund!“ sagte der Knabe, das erblaßte Gesichtchen von der wachsbleichen, in Blumen gebetteten Hand wegwendend, in seiner kurzen knappen Ausdrucksweise halblaut zu seinem Führer. „Er hat mich auch manchmal geküßt – wissen Sie, im Thorweg, wo wir ganz allein waren.“

Der Landrath stutzte einen Moment; dann aber nahm er den Knaben auf seinen Arm und hob’ ihn über den Sarg. Und da bog sich der schöne Kinderkopf tief auf den „stillen Mann“ nieder, sodaß seine braunen Locken die kalte Stirn überflutheten, und küßte ihn auf die bärtigen Lippen.

Dem jungen Mädchen, das noch, wie im energischen Hervortreten begriffen, mit beiden Händen den schwarzem Tuchbehang aus einander hielt, ging es wie ein Aufleuchten über das verhärmte Gesicht, und ein dankbarer Blick flog hinüber zu dem, der mit ernstem, entschiedenem Protest die Lieblosigkeit von der geheiligten Stätte wies.

Indessen waren die im Fortgehen begriffenen Anwesenden geräuschlos aus dem Salon gekommen.

„Gott, wie erschütternd!“ hauchte die Baronin Taubeneck, während der Landrath die Stufen herabstieg und den Knaben sanft aus seinen Armen entließ. „Aber wie ist mir denn –“ wandte sich die Dame leise an die Frau Amtsräthin – „ich kann mich mit dem besten Willen nicht erinnern, daß noch so junge Angehörige der Familie existiren –“

„Sie haben ganz Recht, gnädige Frau; meine Schwester und ich sind die einzigen Ueberlebenden,“ fiel ihr Reinhold tief erbittert und verbissen ins Wort. „Der zärtliche Kuß sollte nur ein Dank für genossene Wohlthaten sein; sonst hat der Junge in unserer Familie absolut nichts zu suchen – er gehört dem Manne da!“ Bei diesen Worten zeigte er auf den alten Maler, der schweigend die Hand des Kindes ergriff und mit einer dankenden Verbeugung gegen den Landrath den Flursaal verließ.

Es war, als gehe jeder Laut menschlicher Stimmen mit ihm, ein so tiefes, verlegenes Schweigen trat ein. Der Widerspruch, so unschicklich laut am Sarge eines Geschiedenen erhoben, mochte das Gefühl Aller peinlich berührt haben. Es fiel kein Wort mehr. Mit stummer Begrüßung ging man aus einander, und gleich darauf fuhren drunten die Wagen nach allen Richtungen weg. …

„Daß Du auch so frühe fort mußtest, Balduin!“ murmelte der alte Amtsrath in schmerzlicher Klage. „Gnade Gott den armen Leuten, über die der herzlose Bursche nun Macht hat, die unter seine Fuchtel müssen!“

Der alte Herr war mit seiner Enkelin allein im Flursaale zurück geblieben, während die Anderen den Fortgehenden das Geleit gaben. „Geh’, mache ein Ende, Gretel! Sei tapfer!“ mahnte er bittend, indem er über das lockige Haar der Weinenden strich, die im bitteren Abschiedsweh auf der obersten Stufe knieete. Sie küßte die kalte Hand – war ihr doch, als dürfe sie den Hauch des Kindermundes auf den Lippen des Todten nicht weglöschen – dann erhob sie sich und ging an der Hand des Großvaters nach den anstoßenden Zimmern.

„So, meine liebe Gretel, das Allerschwerste wäre überstanden!“ sagte er drinnen. „Und nun gehe Du in Gottes Namen auf ein paar Wochen nach Berlin zurück. Dort besinnst Du Dich am ersten wieder auf Dich selber, und der arme, gequälte Kopf da lernt wieder fest und aufrecht sitzen. … Dann aber denke auch an Deinen Großvater. Es wird gar einsam werden draußen in unserem lieben Dambach, denn – er kommt nicht mehr!“ – um den weißen Schnurrbart zuckte und bebte es. – „Mir war er ein guter Sohn, mein Kind; wenn mir auch sein eigentliches inneres Wesen zeitlebens ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist.“

Darauf ging er hinaus und schloß die Thür hinter sich, und Margarete flüchtete in das abgelegenste Zimmer, den rothen Salon – sie wußte, daß jetzt draußen mit dem Kerzenlichte der letzte Glanz eines in den Augen der Welt weit bevorzugten, reichen Erdendaseins erlosch, daß die letzten Vorbereitungen zu der morgen in aller Frühe stattfindenden Üebersiedelung nach dem stillen, kleinen Hause vor dem Thore getroffen wurden. … Ja, morgen um diese Zeit war Alles vorüber, und auch sie war weit, weit weg vom verwaisten Vaterhause! Heute noch, mit dem letzten Zuge kam der Onkel Theobald aus Berlin zu der Beerdigung, und morgen Mittag reiste er wieder ab und sie mit ihm.

Sie ging auf und ab in dem schwacherleuchteten Zimmer, von dessen weiten, hohen Wänden jeder ihrer Schritte widerhallte. Man hatte die ausgeräumte Bel-Etage einstweilen nur nothdürftig wieder hergerichtet – die Teppiche fehlten, und der gesammte Bilderschmuck stand noch im Gange des Seitenflügels. Ein mächtiges Viereck dunkelte auf der verblichenen Tapete – da hatte das Bild der Frau mit den Karfunkelsteinen gehangen, der Schönen, Heißgeliebten, deren arme Seele der grausame Aberglaube hundert lange Jahre im alten Kaufmannshause hatte umherirren lassen, bis der Sturm hereingebraust war und sie auf seine Flügel genommen haben sollte. … O, jene Sturmnacht! Da hatte die Verwaiste zum letzten Male in das Vaterauge geblickt! „Auf Morgen denn, mein Kind!“ hatte er gesagt – das war der letzte Hauch seines Mundes für sie gewesen; dieses „morgen“ kam nie, niemals! – Sie preßte die Stirn zwischen die Hände und lief von Wand zu Wand.

(Fortsetzung folgt.)

Johann Sebastian Bach.

Von H. Kretzschmar.

Das Jahr 1885 ist für die deutsche Musik ein Ehrenjahr. Wir feiern in ihm die Jubiläen von drei Männern, welche von der ganzen Welt zu den größten Tonmeistern aller Zeiten gezählt werden. Und diese Drei waren Deutsche. Der dritte, der heutigen Generation Fremde, ist Heinrich Schütz, (geb. 5. Okt. 1585 zu Köstritz im Voigtlande), der langjährige Dresdener Oberkapellmeister, welcher die deutsche Musik in den schweren Zeiten des Dreißigjährigen Krieges aufrecht erhielt und ihr ein zweiter Vater wurde. Die beiden Anderen aber kennt Jedermann. Noch klingt es durch die Lande von den Jubeltönen des „Messias“, des „Israel in Aegypten“, des „Samson“, „Judas Maccabäus“, mit welchem der zweihundertjährige Geburtstag G. F. Händel’s gefeiert wurde, und schon rüsten sich allenthalben die fähigen Musikinstitute zu neuen Ovationen für den Schöpfer der „Matthäuspassion“, für den großen Johann Sebastian Bach.

Es ist ein sehr erfreuliches Zeichen, daß die Nation weit über die musikalisch aktiven Kreise hinaus an diesen Gedenkfeierlichkeiten Antheil nimmt. Unter den geistigen Gütern unseres Volkes nehmen die Tonschöpfungen unserer Jubilare nicht den letzten Platz ein, und nimmer wollen wir es vergessen, daß es eine Zeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_192.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2024)