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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

No. 12.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
15.

Später füllte sich der Hof mit Arbeitern. Das Aufräumen der Trümmerstätte verursachte einen wüsten Lärm, der Margarete bald aus ihrer trauten Hofstube verjagte … Nun saß sie wieder wie ehemals auf dem Fenstertritt im Wohnzimmer und tunkte die Feder in das große porcellanene Tintenfaß, welches vor Jahren so viel Klexe in den Schreibeheften und auf den Schürzen der ungeschickten Grete verschuldet hatte. Sie wollte an den Onkel in Berlin schreiben, aber sie fand die rechte Sammlung nicht; ihre Gedanken waren fortwährend auf der Flucht vor der ängstlichen Spannung, welche sie seit heute Nacht beunruhigte. „Morgen wird es da oben einen Sturm geben, so wild wie der, unter welchem eben unser altes Haus erbebt!“ hatte ihr Vater im Hinweis auf die obere Etage gesagt. Was da geschehen sollte und mußte, war ihr ein Räthsel. Zwischen dem Papa und den Verwandten droben schien das beste Einvernehmen zu herrschen, auch nicht die geringste Spur eines Konfliktes trat zu Tage; und doch mußten innere Differenzen obwalten, die dem Chef des Lamprechtshauses nachgerade unerträglich geworden waren, denn er wollte ja um jeden Preis „ein Ende machen“ …

Unter den Fenstern des Vorderhauses war es auch nicht viel stiller, als im Hofe. Es war Markttag gewesen. Noch hörte man vereinzeltes Feilschen um Butter, Eier und Obst herüber, und geleerte Holz- und Getreidewagen rasselten heimwärts über das Pflaster. Dann zogen den Marktplatz entlang die Kurrendeschüler, der wohlbekannte, aus den Schülern der höheren Lehranstalten rekrutirte Singchor … B. war eine von den wenigen thüringischen Städten, welche diese uralte, von den gabenheischenden Bettelmönchen und den späteren Bacchanten herstammende Sitte noch schützten und pflegten. Wie eine Schaar Dohlen kamen sie daher, die Knaben und Jünglinge, in ihren runden, schwarzen Mänteln, und schwarze Baretts auf die junge Stirn gedrückt. Solch Einer war auch Tante Sophiens Lieblingsheld, Martin Luther, gewesen, und gleichgesinnt wie dessen Beschützerin die edle Frau Cotta in Eisenach, bestritt sie jahraus jahrein den Mittagstisch für zwei arme Schüler aus ihrer eigenen Tasche.

Drüben vor der Apotheke sangen sie einen Choral, und bald darauf formirte sich der weite Kreis vor Lamprecht’s Hause und intonirte das Lied „Es ist bestimmt in Gottes Rath“. – Sie sangen schlecht und recht mit ihren vom Stadtkantor gedrillten Kehlen, die, so jung, meist mit Seele und Ausdruck noch nichts zu schaffen haben; und doch griffen diese Töne seltsam bewegend an Margaretens Herz, und ein Gefühl banger Beklemmung überschlich sie – ja der gestrige furchtbare Schrecken, die Sturmesnacht und die augenblickliche innere Spannung machten sich nun doch geltend, man war wunderlicher Weise ein wenig nervös.

Und Tante Sophie kam herein, inspicirte wiederholt den hergerichteten Mittagstisch und scheuchte eine naschhafte Fliege von der Obstschale.

„Es muß schlimm aussehen draußen in der Fabrik, Dein Vater kommt gar nicht wieder,“ sagte sie zu dem jungen Mädchen am Fenster. „Bärbe brummt in

Johann Sebastian Bach.
Nach dem Gemälde von Haußmann, gestochen von Bollinger 1802.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_189.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2024)