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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

unabänderlichen Verhängnisse alles Irdischen, dem Vergehen, anheim gefallen. Auch das Wort sieht ganz anders aus zur Zeit seines Entstehens, als zur Zeit seiner Blüthe und seines Endes; so sehr anders, daß es manchmal in den verschiedenen Perioden der Entwickelung seines Begriffes kaum wiederzuerkennen ist, wie man in dem gereiften Manne nicht mehr den Knaben erkennen wird, den man seit vielen, vielen Jahren, seit seiner Kindheit nicht gesehen. Wie wir uns nun aber beim Anblick der kräftigen männlichen Gestalt nicht ungern jener Zeit erinnern, in welcher der jetzt so stattliche Mann noch als fröhlich spielendes Kind unser Knie umfaßte, wie wir im Menschenleben gern auf die verflossenen Phasen der Entwickelung zurückschauen, so dürfte auch ein Blick auf die verschiedenen Stadien eines Wortlebens nicht uninteressant sein. Dieser Blick wird nicht nur unterhaltend, sondern auch lehrreich sein können, wenn wir uns dabei erinnern wollen, daß in jeder Entwickelungsstufe jedesmal der veränderte Charakter des Wortes auch auf eine Veränderung des Charakters des Volkes, welches das Wort dachte und sprach, schließen läßt, denn „es giebt nun einmal kein treueres Abbild des Volks- und Menschengeistes als die Sprache“. –

Was denkst du dir z. B. bei den Worten „Sippschaft“ und „Sippe“? Weißt du, daß das gothische sibja, ahd. sippa, mhd. sippe einst die sehr nahe Verwandtschaft bedeutete?

  „In Wahrheit, die Sippschaft,
Welche Sivrid und Etzel hatten, war enge –“

übersetzt noch im Jahre 1767 Bodmer eine Stelle aus unseren Nibelungen – allein, wenn nun auch Anastasius Grün († 1876) in seinem Gedichte „Zwei Heimgekehrte“ uns erzählt, daß

„Als daheim nun wieder die Zwei,
Da rückt die ganze Sippe herbei –“

so scheint es ja, als ob der alte Begriff des Wortes noch heute in der Sprache lebendig sei? Ganz recht, es scheint eben nur so; ein eigentliches Leben im Sinne der Verwandtschaft hatten die Worte bereits ebenso wenig mehr in Bodmer’s als in Grün’s Zeit, der Dichter nur ließ sie wieder in diesem Sinne von den Todten auferstehen. Daß diese Erweckung indeß doch vielleicht der Anfang eines neuen Lebens für die Worte werden kann, zeigt uns die – Naturwissenschaft, die beide wieder zur Bezeichnung verwandtschaftlicher Verhältnisse in Umlauf gesetzt hat.

Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich die Bedeutung des Wortes „Sippschaft“ gar sehr zu ihrem Nachtheil verändert. Sippschaft fing zunächst an, den engen Umkreis seines ursprünglichen Begriffes zu überschreiten und, außer der verwandtschaftlichen, überhaupt eine Zusammengehörigkeit mehrerer Menschen zu bezeichnen, die durch gleiche Sitten, Gewohnheit des Lebens oder Beschäftigung gleichsam eine Species der menschlichen Gesellschaft vertraten. Das waren nun natürlich nicht immer nur Vereine edler Menschen, auch die Raubritter des dreizehnten Jahrhunderts gehören einer Sippe an, und ihr Treiben ist gewiß nicht dazu angethan, den Begriff des Wortes nach der günstigen Seite hin zu modificiren. Im Gegentheil erhielt das Wort gar bald eine gewisse Verächtlichkeit, die seine frühere Anwendung auf die verwandten Lieben allmählich gänzlich unmöglich machte. Bald wurde es nur noch mit übeln Eigenschaftsworten verbunden wie erbärmlich, elend, traurig und anderen ähnlichen, und in unserer Zeit wird es nicht selten geradezu als eine Beleidigung aufgefaßt, vor die Schranken des Gerichts geschleppt und dort abgeurtheilt. Daß es indeß auch in scherzhaft-kosendem Sinne stehen kann, zeigt Oskar Pletsch’s reizende „Kleine Sippschaft, in 16 Bildern“.

Zu der Sippe der verächtlichen Worte gehört auch die Benennung „Tölpel“, die gewiß keinen allzu gewandten Menschen zu bezeichnen hat. Welch ein häßlicher Sinn heutzutage, und welch ein harmloser Ursprung des Wortes! Es ist entstanden aus dem älteren dörper d. h. Dörfler, Dorfbewohner, und wurde allmählich über dörpel zu tölpel. Ein Dörfler wurde im Laufe der Zeit zu einem Tölpel. Kaum kann die Sinnveränderung irgend eines Wortes anziehender sein als diese; sagt sie uns doch, wie verachtet in der Zeit, in welcher das Wort Dörfler den häßlichen Begriff des Ungeschickten, Rohen erhielt, eine Klasse der Bevölkerung war, welcher erst die letzten Jahrhunderte gerecht wurden, obwohl sie früher mehr noch als heute die Grundlage des Staatsgebäudes bildete, die Klasse der ackerbebauenden, fleißigen Landleute. Blicke in [[Gustav Freytag]]’s „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ und sieh daraus, wie groß in der vielgepriesenen Zeit des höfischen Wesens, des dreizehnten Jahrhunderts, die Abneigung zwischen Ritterhof und Dorf war, welch ein Unterschied obwaltete zwischen dem höveschen d. h. feingebildeten – es ist unser jetzt in ganz anderem Sinne und nur rein äußerlich gebrauchtes hübsch – und dem törperlichen d. h. bäurischen Benehmen. „Die Ritter sahen aus ihrer Trinklaube hochmüthig auf die Dorflinde und den grünen Anger herab, die Bauern dafür feindselig auf die gepanzerte Schaar am Waldesrand.“ Zum Theil trugen allerdings die Bauern selbst Schuld an der Verachtung, mit welcher sie von den Rittern behandelt wurden. Es konnte auf die Letzteren unmöglich einen vortheilhaften Eindruck machen, wenn sie sahen, wie der Bauer nicht selten danach trachtete, aus seinen ihm von der Natur gezogenen Grenzen hinauszudrängen, wie er gleich dem Ritter herr genannt sein wollte, wie sein Sohn dahin strebte, mit Verachtung des Standes, in welchem er geboren und erzogen, als reisiger Knecht in die Burg zu ziehn und „den Rittergurt umzuschnallen“, wie weiland der der litterarischen Leserin wohlbekannte junge maier Helmbrecht Vernhers des gartenaere, von dessen trübem Schicksale Freytag in dem angezogenen Buche anschaulich genug berichtet. Die Bauern ahmten ritterliche Sitte und Unsitte nach, und die „Dorftölpel“, wie Freytag gewiß in absichtlichem Spiel mit dem Wortstamme sie nennt, wurden dadurch den Rittern nur um so verächtlicher. Und später, als längst die ganze hövescheit einstiger glänzender Ritterzeit sich aus den räuberischen Behausungen der Stegreifritter in die wohlumfriedigten, bildungsbeflissenen Städte geflüchtet, da verfielen diese in Ansehung der minder kultivirten Sitten der Landbevölkerung in denselben Fehler der Mißachtung der Bauern, an welchem einst der höfische Ritterstand gekrankt und endlich zu Grunde gegangen war. Mit endlosem Spotte wird des Tölpels „ungeschlachte Eßlust, plumpe Einfalt und betrügerische Pfiffigkeit“ in den Liedern, Erzählungen, Schwänken und Fastnachtsspielen der Zeit gegeißelt. Halten wir nun jene Zeit an die heutige. Welch ein Fortschritt! Der Ackerbau ist im Ansehen gestiegen, nicht mehr gehaßt ist der dörper vom Städter, nicht mehr verachtet; beide leben in gegenseitiger Anerkennung ihrer Rechte und Pflichten als ruhige Staatsbürger friedlich nebeneinander, die alles mit sich fortreißende Bildung hat den alten Hader vernichtet, und was davon noch übrig geblieben, klingt höchstens in leichten harmlosen Spott aus, der wohl einmal zwei besondere Hitzköpfe an einander gerathen läßt, niemals aber die beiden Schichten der Bevölkerung in ihrer Gesammtheit ergreift. Dr. Söhns.     


Blätter und Blüthen.

Winterabend im Gebirge. (Mit Illustration S. 177.) Fremdartig und ernst erscheint dem Städter die Berglandschaft im Winter, wenn der Schnee bis zur halben Mannshöhe die Straßen verweht hat; wenn die Bäche zu Eis erstarrt sind und in den Wäldern ein finsteres frostiges Schweigen sich unheimlich und todbringend hingelagert hat; wenn Alles grau in grau gemalt ist, was man sonst grün und goldig zu schauen gewohnt ist; wenn die unendliche Einsamkeit wieder in jenen Hochthälern thront, wo einst der sommerliche Almruf goldhell vom Felsen jauchzte!

Manches unserer schönen Thäler ist freilich heutzutage auch im Winter dem Freunde der Natur nicht mehr unzugänglich. Im behaglich durchwärmten Eisenbahnkoupé fahren wir den Bergen entgegen. Stundenlang sieht unser Auge nichts, als die mit einer dicken Eisrinde überzogenen Fenster des Wagens. Aber sobald wir diesen an der Endstation verlassen, erschließt sich schimmernder Zauber dem überraschten Blick. Noch hat die Natur Farbengluth und leuchtende Pracht, wenn auch nur wie ein Widerschein aus einem fernen Aether flüchtig gehaucht. Zum frühen Untergange neigt sich die Nachmittagssonne. Der ganze Himmel ist feurig. Im Süden steigen bekannte Wälder dunkelblau empor, und über ihnen thürmt sichs auf: tiefverschneite Alpenmatten, in der Abendsonne leuchtend, von dunklen Felsmassen gekrönt. Verwundert sucht der Blick sich an das fremdartige Wesen der zur Sommerszeit so wohl gekannten Landschaft zu gewöhnen. Selbst der Maßstab für die Entfernungen ist ein anderer geworden. Der Laubwald, hinter welchem sonst das Dorf sich versteckte, ist zum dünnen Gestrüpp geworden; die staubige Straße, die vom Bahnhofe zum Orte führt und auf welcher wir im Hochsommer zwischen Wolken Staubes dahinrasselten, ward ein knietiefer Sumpf, wo von Schneewasser gefüllte Schlittenspuren tief eingefurcht sind.

Eingefroren ist der Mühlbach, der damals in seinem holzgezimmerten Bette neben der Straße hinrauschte. Weiter unten, halbwegs nach dem Dorfe zu, treibt er sonst das Räderwerk einer alten Hammerschmiede. Damals sahen wir – es war ein Sonntagabend um die Zeit der Sonnenwende – am Zaune neben dem alten schwarzgrünen Mühlrad ein Pärchen stehen. Wir kannten sie wohl, die hübsche Tochter des Hammerschmieds und den blonden Jagdgehilfen mit seinem Dächsel. Jetzt muß der Jagdgehilfe wohl weit weg sein, sonst würden die Hasen sich kaum getrauen, so frech über die Straße zu galoppiren und am fahlen Strauchwerk zu zupfen. Frecher als die Hasen sind freilich noch die Spatzen; droben auf dem entlaubten Weißdorn sitzen sie und schütteln den Schnee vom Gezweig und erzählen einander, daß man fett werden könne, wenn man unter das Dach der Hammerschmiede schlüpfe, wo ein großer Sack Getreide offen dasteht. Nur sei dort eine sehr bedenkliche graue Katze. Früher war’s hübscher, als die junge Hammerschmiedstocher noch ab und zu eine Hand voll Brot auf die Straße warf. Ja – wohin war sie wohl gerathen? Rußige Gesellen steh’n in der Schmiede beim Ambos und schlagen mit ihren schweren Hämmern drauf los, daß die Funken in den Schnee hinausstieben. Vorüber, vorüber! Nach dem Dorfe zu, dessen Dächer so schwarz in die weiße Landschaft hineinschauen! Ueber diesen Dächern glänzt es seltsam; eine weite flimmernde Fläche. Das ist der See, dessen ferne waldige Ufer im Abendnebel verschwinden. Ueber ihn hin geht jetzt ein langhallender, klagender Ton, von einem Ufer zum anderen. Und weit in der Ferne antwortet ein ähnlicher Klang, nachzitternd wie ein Geistergruß. Das ist die Musik der krystallenen Eisfläche, die den See bedeckt; eine Reihe von eigenartigen ergreifenden Naturlauten, die uns der Winter singt zum Ersatz für das verlorene Rauschen des sommerlichen Waldes, für das Plätschern spielender Wellen! M. Haushofer.     


Das Jubiläum einer Blume. Nicht allein durch seine Rosengärten ist der thüringische Ort Köstritz berühmt, auch in der Kultur der Georginen nimmt er eine hervorragende Stellung ein, und von Köstritz aus werden wir heute daran erinnert, daß diese stolze Blume, die fast in keinem Garten fehlt, heuer das hundertjährige Jubiläum ihres Einzugs in Europa feiern darf. Um das Jahr 1784 fand Vincent Cervantes in Mexiko eine neue Pflanze; sie trug auf langem, dünnem Stiel kleine Blumen mit einer gewölbten gelben Scheibe und einem einzigen Kreise violetter, rother oder orangefarbener Strahlblümchen. Cervantes sandte die Pflanze an den Direktor des botanischen Gartens zu Madrid Cavanilles, der sie zuerst

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_187.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2024)