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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Und denkt doch, Herr, ich sah’s genau:
Auf Eurem Zelter sitzt die Frau.
Wie reizend ist sie, wenn sie spricht!
Glaubt, Herr, solch lieblich Angesicht
Hab’ ich im Lande nie gesehn.
Mich dünkt, ’s ist eine von den Feen,
Sie schickt Euch Gott zum Trost im Leid,
Weil Ihr so gar verlassen seid. –

Herr Wilhelm sprang in Hast empor,
Warf um den Rock und lief zum Thor.
Das ihm der Thürmer flink erschloß;
Da hielt sein Lieb auf seinem Roß.
Sie sprach: O Herr, laßt Euch erbitten!
So viel hab’ ich heut Nacht erlitten.
Vergönnet mir ein Obdach hier!
Ich bin verfolgt; man sucht nach mir. –
Er trat ins Licht; sie sahn sich an,
Und all ihr Herzeleid zerrann.
Er hob vom Roß die holde Maid
Und küßte sie voll Seligkeit.
Er hielt sie bei der Hand gefaßt,
Führt in sein Haus den lieben Gast,
Wo sie verzückt beisammen saßen
Und alle Welt um sich vergaßen.
Sie kosten, lachten inniglich;
Sie staunten und bekreuzten sich,
Ob mit solch unverhofftem Glücke
Sie nicht ein Traumgesicht berücke,
Und wenn es just kein Lauscher sah.
So drangen sie sich zärtlich nah,
Umfingen eng sich Mund an Mund
Und küßten sich von Herzensgrund.

Doch in des Morgens goldner Helle
Führt er sein Lieb in die Kapelle.
Der Burgkaplan war schon berufen;
Er stand auf des Altares Stufen
Und schlang um sie von Hand zu Hand
Ein unauflöslich heilges Band.
Und als die Messe war gesungen,
Kam das Gesind zum Tanz gesprungen,
Die Mägde mit den Mannen all,
Das Haus erdröhnt von Freudenschall.

Indessen machten fern am Wald
Die alten Herrn beim Kirchlein Halt.
Sie harrten lang und riefen laut:
Da sind wir nun! Wo bleibt die Braut? –
Ihr Ritter sprach: Ist sie nicht hier?
Sie ritt die ganze Zeit vor mir.
Der Wald war dicht, der Weg war schmal:
Ich schlief, und wacht’ ich auch einmal,
So dacht’ ich, sie wird vorne sein,
Und schlief beruhigt wieder ein.
Sonst hab’ ich weiter nichts vernommen
Mich wundert, wo sie hingekommen. –

Da stand bestürzt der ganze Haufen.
Das war ein Rufen und ein Laufen;
Man forschte hier; man fragte dort:
Doch ach, umsonst! Die Braut war fort.
Ihr alter Vater klagte sehr,
Ihr alter Bräutigam noch mehr.
Sie quälten sich in Angst und Reue;
Und suchten ruhlos stets auf’s Neue.

Da plötzlich kam, den Zaum verhängt,
Ein Knappe grüßend angesprengt:
Herr Wilhelm, der mich ausgesandt,
Reicht, Herr, als Eidam Euch die Hand.
Heut Morgen, als der Tag ergraut,
Ward Euer Kind ihm angetraut.
Das Paar umjubelt Sang und Reihn;
Kommt selber, Herr, und stimmt mit ein!
Auch seinen Oheim läßt er laden.
In seines reichen Glückes Gnaden,
Verzeiht, vergißt er seine Schuld
Und sendet Allen Gruß und Huld. –
Die Alten stehn mit offnem Munde
Bei dieser wundersamen Kunde.
Nachdem genugsam sie gestaunt,
Ward viel geredet und geraunt:
Nicht ändern könnt ihr, was geschehn,
Mögt ihr auch noch so sauer sehn.
Je nun, ihr seid doch aus den Sorgen:
Das Kind ist heil und wohl geborgen.
Zwar ging es nicht nach unsrem Sinn;
Doch nehmt’s als Gottes Fügung hin!
Drum faßt euch klug und geht als Gäste
Zu eurer Erben Hochzeitfeste!
Beschlossen ward’s. Mit Mann und Roß
Kam angerückt der ganze Troß,
Und grüßend trat den alten Degen
Das junge Paar versöhnt entgegen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_139.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)