Seite:Die Gartenlaube (1885) 095.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Erklärung dieser auffallenden Thatsache finden können. Die meisten Sternwürmer leben in ähnlicher, wenn auch etwas verschiedener Weise wie die Bonellien am Grunde des Meeres in Sand oder Schlamm, in welchem sie sich mühsam umher bewegen und den die meisten verschlingen, um die darin enthaltenen kleinen Organismen zu verdauen; in ähnlicher Weise leben Tausende von Wurmarten, bei welchen kein grelles Mißverhältniß zwischen den beiden Geschlechtern obwaltet. Wir stehen hier vor einem noch ungelösten Räthsel, in welches auch die allgemeinen Betrachtungen, die wir aus den Beziehungen der beiden Geschlechter zu einander ableiten können, kein Licht zu werfen vermögen.

Suchen wir nach einer allgemeinen Ursache des Mißverhältnisses der beiden Geschlechter, so tritt uns wohl in erster Linie ein rein mechanisches Moment entgegen.

Betrachten wir zunächst das Weibchen. Fast alle Eier enthalten, außer dem ersten Bildungsmateriale des Embryos noch eine mehr oder minder bedeutende Beigabe von Nahrungsmaterial, das nach und nach zu dem Aufbau und Ausbau des Körpers des Jungen benutzt wird. Diese Beigabe, die in dem Hühnerei z. B. den gelben Dotter bildet, kann sehr bedeutend sein, je nachdem das Junge in mehr oder minder ausgebildetem Zustande das Ei verläßt. Sind die Eier ursprünglich fast verschwindend klein, wie z. B. bei den Säugethieren, so wachsen sie in dem mütterlichen Organismus während der Entwickelung des Jungen zu beträchtlicher Größe an. Die Eier, welches auch ihre weitere Entwickelung sein möge, fallen demnach unter allen Umständen in das Gewicht; der weibliche Organismus muß, während einer bestimmten Zeit, eine schwerere Bürde mit sich herumschleppen, als der männliche. Dazu kommt noch, daß in vielen Fällen die Zahl der Eier sich fast in das Unendliche vermehrt. Diese Vermehrung findet nachgewiesener Maßen in umgekehrtem Verhältniß zu der Wahrscheinlichkeit statt, welche die Fortdauer der Art bietet. Ein Thier, dessen Brut vielfachen Zufälligkeiten ausgesetzt ist, in welchen dieselbe zu Grunde gehen kann, wird und muß mehr Eier und Junge produciren, als ein anderes, dessen Nachkommen vor solchen Zufälligkeiten geschützt sind. Mäuse und Kaninchen pflanzen sich fast das ganze Jahr hindurch fort und jeder Wurf bringt eine bedeutende Zahl von Jungen, während der Elefant nur in längeren Zwischenräumen ein Junges erzeugt. Bei manchen Thieren geht das in das Ungeheuerliche – ein Bandwurmkopf muß Tausende von Gliedern, die Millionen Eier enthalten, erzeugen, damit nur einige derselben die Wanderungen, welche sie von dem Körper des Schweines zu dem Darmkanale des Menschen bestehen müssen, ungehindert überstehen. Aber alles dieses fällt als Masse in das Gewicht, und dieses Gewicht muß getragen werden.

Ist es nun zu verwundern, wenn wir zu dem Schlusse kommen, daß der weibliche Organismus, wenn nicht andere Bedingungen einwirken, größer und kräftiger sein müsse, als der männliche? Offenbar ist das Mißverhältniß zu Ungunsten des Männchens das ursprüngliche, gesetzmäßige Verhältniß, und in der That sehen wir es auch bei den meisten niederen Thieren obwaltend.

Durch welche Ursachen kann nun dieses ursprüngliche Verhältniß ausgeglichen und sogar umgekehrt werden?

Gehen wir, um uns davon Rechenschaft ablegen zu können, von den soeben angedeuteten mechanischen Momenten aus.

Der weibliche Organismns producirt mehr Stoff zur Fortpflanzung, als der männliche, und dieser Stoff fällt mehr in das Gewicht. Bei sonst gleichen Existenzbedingungen wird also der weibliche Organismus um so weniger Stoff zur Ausbildung seiner übrigen Organe zur Verfügung haben; er wird, bei vergrößertem Gewichte seines Körpers, mehr Kraft zur Bewegung desselben aufwenden müssen, als der männliche. Er wird träger, unbeholfener sein und als natürliche Folge die Tendenz zur Ruhe, zum Festsitzen bis zu fast vollständiger Unbeweglichkeit ausbilden.

So sehen wir denn auch wohl allgemein in der Thierwelt das männliche Element als das beweglichere, suchende. Es ist ursprünglich leichter, bildet seine Bewegungsorgane, seine Sinnesorgane, die ihm zum Aufsuchen der träge in Ruhe sitzenden oder selbst am Boden haftenden Weibchen dienen, besser aus. Wir haben Tausende von Beispielen, welche dies belegen; ich will nur an die träge stillsitzenden oder selbst der Flügel beraubten Weibchen vieler Schmetterlinge erinnern, deren Männchen lustig umherschwärmen und durch ihre besser ausgebildeten Sinnesorgane die sich bergenden Weibchen zu finden wissen.

Aus der weiteren Entwickelung dieser Tendenz mag sich denn auch die Thatsache erklären, daß viele Männchen nur eine sehr kurze Lebensdauer den Weibchen gegenüber besitzen – sie gehen zu Grunde, sobald sie den Zweck ihrer Existenz, die Befruchtung der Eier, erfüllt haben. Auf diese Weise mag sich die Zwergennatur so vieler Männchen erklären, die immerhin beweglicher, als die Weibchen, in der Nähe derselben umherschwärmen, auf den festsitzenden umherkriechen und schließlich bei den ihnen zugetheilten Kolossen Schutz und selbst Nahrung suchen. Das verhältnißmäßig riesige Weibchen sitzt dann fest an einem anderen Thiere als Schmarotzer oder an dem Boden, das Männchen sucht in seinem Mantel Schutz und klammert sich schließlich an dasselbe an, schlüpft sogar in seine inneren Organe, um dort endgültig zu verweilen. Dadurch wird denn auch wieder seine Beweglichkeit verringert; die Schwimmfüße wandeln sich zu Klammern, Haken etc. um.

Die größere Beweglichkeit des Männchens kann aber, bei weiterer Ausbildung in abweichender Richtung, besonders dann zu dem entgegengesetzten Resultate führen, wenn sie mit einem anderen Momente, nämlich mit der Brutpflege im weitesten Sinne in Verbindung tritt.

In den meisten Fällen ist das Weibchen mit der direkten Brutpflege betraut. Es besitzt besondere Organbehälter, Säcke, Glieder, in oder an welchen die Eier, die es mit sich trägt, sich weiter entwickeln. Ich will nur, um bekannte Beispiele anzuführen, an die Eier unter dem Schwanze der Krebse erinnern, welche an eigenthümlich modificirten Beinen befestigt sind, oder an die Eisäcke, welche viele Spinnen mit sich umherschleppen.

Wir kennen nur wenige Fälle, wo die Männchen mit solcher direkten Brutpflege sich befassen. Die Männchen der niedlichen Seepferdchen (Hippocampus), die man in jedem Aquarium sehen kann, füllen einen Beutel, den sie am Körper haben, mit den befruchteten Eiern an und tragen dieselben schwimmend herum, bis die Jungen ausschlüpfen. Dem mechanischen Gesetze entsprechend, sind diese Männchen größer als die Weibchen. Im See Tiberias in Galiläa hat Professor Cortet von Lyon einen Fisch, eine Chromis-Art, entdeckt, die er den „Familienvater“ (Chromis pater familias) genannt hat und deren Männchen eine weit ausgedehnte Rachen- und Kiemenhöhle besitzt. Das Männchen schluckt die befruchteten Eier ein und trägt sie im Maule, ohne Nahrung zu nehmen, so lange herum, bis die Jungen ausschlüpfen. Wenn das Männchen der Geburtshelferkröte (Alytes obstetricans) kleiner ist, als das Weibchen, so liegt der Grund offenbar darin, daß bei dessen Brutpflege das mechanische Element nicht in Betracht kommt. Das Männchen umwickelt sich die Schenkel mit der vom Weibchen erzeugten Eierschnur und vergräbt sich mit dieser Bürde tief in den Lehm, worin es bewegungslos und ohne Nahrung zu nehmen, verharrt, bis die Jungen ausschlüpfen. Ich habe Männchen besessen, welche sich die Eier so fest um die Beine gewickelt hatten, daß diese brandig wurden und abstarben.

Wenn aber die direkte Brutpflege durch die Männchen in der Thierwelt selten vorkommt, so findet man die indirekte um so häufiger und namentlich bei Wirbelthieren. In Folge seiner größeren Beweglichkeit und Sinnesschärfe wird das Männchen der Schützer und Vertheidiger der Brut, der Hüter und Beschirmer der Familie.

Schon bei Fischen finden wir zahlreiche Erscheinungen, die in diese Kategorie gehören. Wer kennt nicht aus vielen populären Schilderungen das Gebahren des Stichlings, der aus Wasserpflanzen ein Nest baut, in welches das Weibchen seine Eier legt, die das Männchen nachher bewacht und mit mannhaftem Muthe gegen Feinde aller Art vertheidigt? Mit gesträubten Stacheln und offenem Rachen fährt es nicht nur gegen andere Stichlinge, sondern auch gegen viel größere Fische los, die sich dem Neste nähern, und hütet sogar noch längere Zeit die ausgeschlüpfte Brut, wie ein Schäferhund seine ihm anvertraute Heerde. Schmiedlein erzählt nach Beobachtungen, die er in dem so reichen und sehenswerthen Aquarium der zoologischen Station in Neapel gemacht, Aehnliches von gewissen Meergrundeln (Gobius). Das Männchen vertheidigte siegreich während mehrerer Tage die von dem Weibchen an einen Felsen geklebten Eier gegen gefräßige Junker-Fische (Julis), die wenigstens doppelt so groß waren, als es selber; die listigen Angreifer theilten sich in zwei Haufen und während das Männchen grimmig gegen die nächsten losstürmte und sie in die Flucht schlug, fiel der andere Haufen über die Eier her und verschlang sie.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_095.jpg&oldid=- (Version vom 14.3.2024)