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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


in seiner gedämpften Stimme – weiter: ‚Dann müssen wir gleich hinaus,‘ sagte ich, ‚daß uns am Ende nicht die Bande über den Hals kommt!‘

‚Ja, mich wundert, daß sie nicht schon da ist,‘ sprach der Steuermann. ‚Glaubt’s Herr, er ist ein regulärer Schuft – ich habe nie etwas auf ihn gehalten.‘

Und so liefen wir denn aus und – gerade einem spanischen Zollschoner in die Arme, der draußen auf uns paßte. Es wurde ein harter Kampf, wo uns Alles schief ging, kein Manöver gelang und keine Kugel traf, sodaß mir mit einem Male jene hohnvollen Worte des Schuftes in den Kopf kamen und einen Verdacht wachriefen – Junge, ich stürzte hinunter und sah mich um und – Gott verdamme mich hier und dort!“ setzte er knirschend hinzu, die Stirn drohend gefaltet und die Fäuste geballt, „der Klotz war ausgesägt – der ‚Kleine‘ fort – oh! –

Da wußt’ ich Bescheid und sprang hinauf, um bei meinen noch übrigen Jungen zu bleiben. Die Zöllner enterten gerade und in fünf Minuten lag ich mit dem Hieb durch das Auge besinnungslos darnieder und – die Affaire war zu Ende. Man hat mich und ein paar Andere zur Aburtheilung ans Land gebracht und, wie ich gehört habe, die armen Teufel auch richtig gehängt,“ sprach er nach einer kurzen Pause weiter. „Mich sparte man auf, bis ich wieder bei Verstand wäre. Dann aber kam ich durch ein paar gute Freunde davon und warf mich auf die Spur des Schuftes. Drei Jahre lang bin ich ihr gefolgt, wohin sie mich wies, von einem Schiff und einem Hafen zum anderen. Denn der Bnrsche floh vor mir, er wußte wohl, was ihm blühte. Aber ich hatte kein Glück mehr und traf ihn nicht, bis ich, es werden jetzt auch wieder drei Jahre sein, von einem seiner alten Maaten, den er auch betrogen hatte, vernahm, er sei auf Barbados am gelben Fieber gestorben. So war’s denn aus, auch mit mir. Ich dachte, ich hätte mir die Ruhe verdient, und machte mich hierher und fraß meinen Grimm in mich. Aber –“ und noch einmal kam das Knirschen wieder, sein Auge brannte düster und die Fäuste zuckten – „aber, ich habe doch noch Glück! Da ist er und jetzt ist er mein! – Er ist schlau, der Hund, und geht nicht allein, und spürt herum! – Aber ’s hilft ihm nichts – ich packe ihn schon!“

Er stand auf und ging zum Schieber, stieß ihn auf und schaute hinaus. Und nach einer Weile sprach er über die Schulter zurück: „Packe Dich, Junge! Ich brauche keinen Doktor, ich will mich schon selbst kuriren!“ –

Ich sage nichts mehr von mir, nicht von meinen Gedanken, nicht von meiner Stimmung. Als ich mich entschloß zu gehen, gab ich der Frau drunten einen Wink, daß sie auf den Alten achten und ihn im Hause festhalten solle, und suchte dann den Wirth auf, um ihn von dem Vernommenen und meiner Ansicht über Karsten zu unterrichten. Der rauhe Mann war ganz bestürzt und stimmte mit mir überein, daß hier kein Augenblick zu verlieren sei. Er wolle die Sorge für den Unglücklichen übernehmen, bis ich Kapitän Webster unterrichtet hätte und mit ein paar Wärtern des Krankenhauses zurückkehren könnte, um den Unglücklichen in Verwahrung zu nehmen.

Aber all unser Eifer und all unsere Vorsicht waren umsonst. Denn schon nach einer Viertelstunde, als ich im Krankenhaus weilte, durchflog das Geschrei die Stadt, daß der Kapitän Webster, der allein von seinem Schiffe fortgegangen war, nahe vor der Brücke, die zum Thore führte, von dem tollen Karsten Müller, wie er bekanntlich hier genannt wurde, überfallen und niedergestochen worden sei. Der Thäter habe sich unmittelbar darauf ins Wasser gestürzt und sei noch nicht gefunden worden.

Die Erklärung, wie das Unglück so schnell möglich geworden, schien nicht schwierig zu sein. Karsten hatte zweifellos durch den Ausguck seinen Feind das Schiff allein verlassen sehen und sich die Gelegenheit augenblicklich zu Nutze gemacht, das Haus mit der ihm eigenthümlichen Schlauheit und Vorsicht durchschleichend – vielleicht schon während der Minute, wo ich droben mit der Wirthin im Zimmer verhandelt hatte. Draußen war dann weiter kein Hinderniß mehr, denn wer den alten Menschen wirklich erkannte, hatte am Ende keinen Grund, ihn aufzuhalten da er am allerwenigsten etwas wie sein jetziges Vorhaben argwöhnen konnte. Der Kapitän aber war, als er den Angreifer erblickt hatte, auch bereits niedergestoßen worden und ohne einen Laut gestorben.

Er hatte aber, wie man von dem Neger erfuhr, sich vordem eine Zeitlang wirklich Jack Morris genannt, sodaß Karsten wenigstens von jenem Vorwurfe, in der Blindheit seines Hasses vielleicht nur durch eine zufällige Aehnlichkeit getäuscht worden zu sein, freigesprochen werden mußte. – Ich habe nichts mehr zu sagen.




Idealstädte.

Ueber den Ocean dringen zu uns Nachrichten von einer neuen, merkwürdigen Stadt, einer verwirklichten Utopie. Selbstverständlich mangelt es da nicht an den bekannten geradlinigen, hübschen Straßen Amerikas; dazu kommt. daß jedes Haus von einem großen. schönen, eingefriedigten Garten umgeben ist. In unseren eisernen Zeiten kann selbst ein Utopien nicht ohne Maschinenwerkstätten ins Leben treten, wenigstens in den Vereinigten Staaten nicht; aber die Waggonfabriken können zum Mindesten inmitten eines Parkes liegen, und in diesem befinden sich viele Springbrunnen, künstliche Felsen und ein See. Auch die nothwendigen Uebel, so man Kaufläden nennt, müssen vorhanden sein, allein sie sind sammt und sonders in einer Arkadenhalle untergebracht, und die Fleischhauereien müssen sich mit einer abgesonderten Verkaufsstelle begnügen, damit Auge und Ohr des Bazarpublikums nicht in anti-utopischer Weise beleidigt werden. Schule, Kirche und „Hospitium“ – ein Unterhaltungslokal – sind aufs Beste eingerichtet. Da alle Utopier reines Wasser als eines der wichtigsten Erfordernisse des Lebens betrachten, finden wir in der Mitte unserer Idealstadt ein riesiges Reservoir, aus welchem das klare Naß geleitet wird. Noch angenehmer als die hier herrschende Reinlichkeit und Ordnung soll den Besucher die Art und Weise berühren, wie sich die Einwohner unterhalten. Sie suchen nicht Stammkneipen und Weinhäuser oder Bierhallen auf – Einrichtungen solcher Gattung giebt es in diesem modernen Utopien überhaupt nicht – sondern rudern singend auf dem See umher, andere spielen auf der Wiese Ball oder lauschen der Parkmusik. Die Hauptrolle jedoch spielt die geistige Erholung: das Theater, die öffentliche Bibliothek, der Debattirklub, der litterarische Verein finden starken Zuspruch. Noth und Elend sind da unbekannte Dinge, wenngleich natürlich von materieller Gleichheit eben so wenig die Rede sein kann wie von geistiger oder physischer, so sind doch in diesem Falle die Gegensätze nicht so groß wie gewöhnlich.

Die meisten Reisenden. die über merkwürdige Städte jenseit des Oceans berichtet haben, unterließen wohlweislich die Angabe, in welcher Gegend der Neuen Welt ihr Utopien liegt. Was die von uns ins Auge gefaßte Idealstadt aber betrifft, so liegt kein Grund vor, ihre geographische Lage zu verheimlichen: sie ist nicht weit von Chicago. Nicht einmal ihr Name braucht „unter uns“ zu bleiben – sie heißt Pullman City. Wer kennte nicht den Namen Pullman? Welcher Reisende hatte nicht schon einen „Pullman Sleeping Car“ gesehen oder gar in einem solchen geschlafen? Alle Welt weiß, daß unter „Pullman“ ein Eisenbahn-Schlaf-Waggon zu verstehen ist. Daß „Pullman“ ein Menschenname, weiß freilich nicht Jedermann. George M. Pullman erfand die bekannten Schlafwagen und verkaufte sein Patent an eine Aktiengesellschaft. Der Aufschwung, den das Geschäft der letztern nahm, machte im Jahre 1880 die Errichtung neuer Gebäude nöthig. Dieser Umstand gab dem als Direktor der Palace Car Company fungirenden Erfinder Gelegenheit, eine alte Lieblingsidee zu verwirklichen. Er hatte in Chicago die schlimmen Schattenseiten der Großstädterei beobachtet und war entschlossen, seine Untergebenen vor denselben zu bewahren. Er gewann die Ueberzeugung, daß der Durchführung seines Planes keine anderen als finanzielle Schwierigkeiten im Wege stünden und diese ließen sich leicht beseitigen. Er huldigte dem Grundsatze: „In der menschlichen Natur steckt ein erheblicher guter Keim, und es hängt ganz von den umgebenden Verhältnissen ab, ob derselbe zur Entwicklung gelangt oder nicht.“ Er wußte, daß in den übervolkerten Großstädten die Arbeiterklasse zumeist auf elende Wohnungen angewiesen ist, in denen die Reinlichkeit oft zur Unmöglichkeit wird, sowie daß die schlechte Gesellschaft, welche gewisse Stadttheile bewohnt, auf Bevölkerungselemente, die unter anderen Umständen vielleicht gut gedeihen würden, moralisch, geistig und physisch schlechte Einwirkungen ausübt.

Da rohe, schwächliche, trunksüchtige, unwissende Arbeiter nicht so leistungsfähig sind wie gesittete, gesunde, mäßige und nach Bildung strebende, so kam Mr. Pullman auf den Gedanken, es müsse rentiren, eine Idealstadt für seine Angestellten zu bauen. Gesagt, gethan, und jetzt werden in Pullman City, vierzehn englische Meilen von Chicago entfernt, auf einem erklecklichen Stück Landes die bekannten Schlafwagen gebaut. Die Stadt zählt über 2000 Einwohner, ausnahmslos lauter Brotnehmer der genannten Firma. Die Voraussetzungen unseres Utopisten sind in jeder Hinsicht eingetroffen. Die Ortschaft ist schon über vier Jahre alt und hat noch immer keine Ursache zur Klage gegeben. Diejenigen Arbeiterfamilien, welche früher im Schmutz lebten, zögerten nach ihrem Einzug in die hübschen neuen Cottages nicht, die Fenster mit Blumen zu schmücken und ihre eigene Person reinlich zu halten.

Das Schönste an der Sache ist vielleicht, daß Pullman City sein Gedeihen durchaus nicht dem von der britischen Rasse so hochgeschätzten „local self-government“, der städtischen Selbst-Verwaltung, verdankt, denn – man höre und staune – es besitzt überhaupt keine Behörden:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_032.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2023)