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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Die Frau mit den Karfunkelsteinen.
Roman von E. Marlitt.


Tante Sophie hatte die Klammerschürze vorgebunden und nahm Wäsche von der Leine. Das Herz lachte ihr im Leibe, während sie unter den hochgespannten Seilen hinschlüpfte – frischgefallener Schnee, ja, was war der gegen das Weiß der bleichenden Tafeltücher und Leinenbezüge? – Seit unvordenklichen Zeiten war stets das schönste Bleichwetter, sobald die Leinenschätze des ehrenwerthen Hauses „Lamprecht und Sohn“ an die Luft gebracht wurden – „selbstverständlich“! Es sei das so gut ein Vorrecht wie das berühmte Kaiserwetter, meinte Tante Sophie immer mit listigem Augenzwinkern, denn es war Jemand im Hauses der solche „Blasphemien“ absolut nicht hören mochte. …

Nun zog heute wieder die köstliche Sommerluft dörrend durch die feuchten Lakenreihen, und die Julisonne schien ihre ganze Kraft in dem mächtigen Viereck des Hofes zu concentriren. Ueber die Dächer schossen Schwalbenschaaren wie stahlglänzende Pfeile in den Hof herein; ihre Nester hingen an den steinernen Fenstersimsen in der Beletage des östlichen Seitenflügels, und es war Niemand da, der den kleinen Blauröcken wehrte, wenn sie auf den Simsen rasteten und in ihrem aufdringlichen Gezwitscher kein Ende fanden. Ja, es wehrte ihnen weder ein Menschenblick, noch eine fortscheuchende Handbewegung; denn nie klang eines der Fenster droben in diesem Seitenbau, höchstens daß einmal im Jahre auf Stunden gelüftet wurde, dann fielen die großblumigen Gardinen wieder zu und ließen es geduldig geschehen, daß ihnen die Sonne den letzten Farbenrest aus der morschen Seidenfaser sog.

Das Haupthaus, dessen Façade auf den vornehmsten Platz der Stadt hinausging, hatte der Zimmer und Säle genug, und der Bewohner nicht viele, da brauchte man die obere Zimmerflucht des östlichen Seitenflügels nicht. Die Leute sagten aber Anderes. So hell und sonnig auch das angebaute Hinterhaus in die Lüfte stieg, und so friedlich es erschien mit seinen hohen, stillen Fenstern, es war doch der unheimliche Schauplatz eines Kampfes, eines fortgesetzten, gespenstigen Kampfes bis in alle Ewigkeit. So sagten die Leute draußen in Gassen und Straßen, und die drinnen widersprachen nicht. Warum auch? Hatte es doch seit Anno 1795, wo die schöne Frau Dorothea Lamprecht in dem Seitenflügel ihr Wochenbett abgehalten und da verstorben war, fast keinen dienstbaren Geist der Familie gegeben, der nicht wenigstens einmal die lange Schleppe eines weißen Nachtgewandes durch den Corridor hatte schleifen sehen, oder gar gezwungen gewesen war, sich halbtodt vor Schrecken platt an die Wand des Ganges zu drücken, um die lange, hagere „Selige“ im grauen Spinnwebenkleide an sich vorüberzulassen. Drum schliefe auch Niemand droben in dem Hause, sagten die Leute.

An dem „Unwesen“ sollte ein Eidbruch schuld sein.

Justus Lamprecht, der Urgroßvater des derzeitigen Familienoberhauptes, hatte seinem sterbenden Eheweibe, der Frau Judith, feierlich zuschwören müssen, daß er ihr keine Nachfolgerin geben wolle – es sei um ihrer zwei Knaben willen, sollte sie gesagt haben; im Grunde aber war es glühende Eifersucht gewesen, die keiner Anderen den Platz an der Seite ihres zurückbleibenden Ehemannes gegönnt. Herr Justus hatte aber ein leidenschaftliches Herz gehabt, und seine schöne Mündel, die in seinem Hause gewohnt, nicht minder. Sie hatte gemeint, und wenn sie in die Hölle mit ihm müsse, sie lasse doch nicht von ihm und heirathe ihn der neidischen Seligen zum Trotz und Tort. Und sie hatten auch zusammen gelebt wie zwei Turteltauben, bis sich die schöne, junge Frau Dorothea eines Tages in den Seitenflügel zurückgezogen, um sich in der mit fürstlicher Pracht ausgestatteten Wochenstube ein neugeborenes Töchterchen in den Arm legen zu lassen. Herr Justus Lamprecht hatte gesagt, nun sei er auf dem Gipfel des Glückes. …

Es war aber gerade strenger Winter gewesen, und just in der Weihnachtsnacht, wo draußen Alles zu Stein und Bein gefroren, war mit dem Glockenschlag Zwölf langsam und feierlich die Thür der Wochenstube nach dem Gange hinaus zurückgefallen, und die Selige war auf einer grauen Wolke, wie in Spinnweben gewickelt, hereingekommen. Und die Wolke, der Spinnwebenrock und der häßliche Kopf mit der Spitzendormeuse, Alles war unter den seidenen Betthimmel gekrochen und hatte sich auf der Wöchnerin so fest zusammengekauert, als solle dem blühenden jungen Weibe das Herzblut ausgesogen werden. Der Wartefrau waren Hand und Fuß gelähmt gewesen, und sie hatte sozusagen in einer Eisgrube gesessen, so mörderisch kalt war es von dem Spukwesen ausgegangen; die Sinne waren ihr vergangen, und erst lange darnach, als das Neugeborene geschrieen, war sie wieder zu sich gekommen.

Ja, das war nun eine schöne Bescheerung gewesen! Die Thür nach dem eisigkalten Gange hatte noch sperrangelweit offen gestanden, und von der bösen Frau Judith war auch nicht ein Rockzipfelchen mehr zu sehen gewesen, im Bette aber hatte Frau Dorothea aufrecht gesessen und unter heftigem Schütteln und Schaudern mit den Zähnen geklappert und ganz wirr nach dem Kind in der Wiege gesehen, und nachher war sie in Raserei verfallen, und nach fünf Tagen hatte sie, ihr todtes Kindlein im Arme, im Sarge gelegen. Die Aerzte hatten gesagt, Mutter und Kind seien in Folge heftiger Erkältung gestorben; die pflichtvergessene Wärterin habe die Tür schlecht verschlossen, sei eingeschlafen und habe verrückt geträumt – einfältiges Gewäsch! – Wenn das Alles so mit natürlichen Dingen zugegangen war, weshalb geschah es denn nachher, daß die schöne Verführerin oft schon im Abendzwielicht aus der ehemaligen Wochenstube gehuscht kam und die graue Furie hinter ihr hersauste, um ihr von hinten, die langen dürren Arme würgend um den Hals zu schlingen? –

Die Firma „Lamprecht und Sohn“ hatte zu Ende des vorigen Jahrhunderts noch mit Leinen gehandelt, und die öfter wiederholte Bezeichnung „Thüringer Fugger“ sollte gar nicht übel auf ihr Ansehen gepaßt haben. Dazumal hatte ihr großer Häusercomplex am Markte einem Bienenstock geglichen, so lebendig war der Menschenverkehr gewesen. – Bis unter die Dächer hinauf sollen die Leinenballen aufgestapelt gewesen sein, und allwöchentlich waren mächtige Frachtwagen schwerbeladen in die weite Welt hinausgefahren. Tante Sophie wußte das Alles ganz genau. Sie selbst hatte freilich jene Zeiten nicht gesehen; aber in ihrem hellen Kopfe waren Familientraditionen, alte Geschäfts- und Tagebuchnotizen und die verschiedenen, oft curiosen Nachlaßverfügungen so pünktlich registrirt, wie sie kaum der Archivar einer Regentenfamilie in den Annalen sammelt.

So war denn auch die alljährliche Julibleiche eine Zeit der Reminiscenzen. Da kamen uralte Wäschestücke auf die Leine, nicht der Benutzung wegen – bewahre! – nur damit sie nicht vergilbten und in neue Brüche gelegt werden konnten. Und die eingewebten Jäger und Amazonen, die mythologischen und biblischen Figuren in dem Damastzeuge mochten sich dann freilich jedesmal verwundern, wie still und anders es in dem Hofe geworden, daß von Flachspreisen und Webelöhnen kein Wort mehr fiel, kein hochgethürmter Frachtwagen durch die Thorwölbung des Packhauses rasselte und das Schlagen der Webstühle in fast lautloser Stille erloschen war. Es ging ja wohl öfter ein Flüstern und Rauschen durch den Hof, aber das kam vom Zugwind, der durch das Gesträuch und Gezweig fuhr – du lieber Gott, wie sich doch die Welt ändert! Grünes Blattwerk auf dem ehemaligen Geschäftstummelplatze, der dazumal nicht die ärmlichsten Grasspitzen zwischen seinem festen Bachkieselgefüge hatte aufkommen lassen! Je nun, hatte sich doch das alte Steinpflaster im Laufe der Zeiten selbst nicht behaupten können! Eine Rasendecke lag jetzt auf dem etwas abschüssigen Terrain, schöne Rosenbäume schüttelten ihre buntfarbigen Blüthenblätter über das weiche Gras her; es rauschte junges strotzendes Lindenlaub vor dem westlichen Seitenflügel, der sogenannten Weberei, und das alte Packhaus, welches nach Norden hin den Hof abschloß, war von oben bis unten umschnürt von dem grünen Schuppenpanzer des Pfeifenstrauches.

Der Leinenhandel war längst vertauscht worden mit einer Porcellanfabrik, die sich außerhalb der Stadt, auf dem nahegelegenen Dorfe Dambach befand.

Der gegenwärtige Chef des Hauses „Lamprecht und Sohn“ war Wittwer. Er hatte zwei Kinder, und Tante Sophie, die Letzte einer Seitenlinie der Familie, führte ihm die Wirthschaft, mit fleißigen Händen, in Zucht und Ehren und weiser Sparsamkeit.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_002.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2020)