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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Männer ist wiederholt von der „Gartenlaube“ gewürdigt worden, hier möge nur der Verdienste der Letzteren um unsere Kinder gedacht werden.

Daniel Gottlieb Moritz Schreber ward am 15. October 1808 in Leipzig geboren. Nachdem er die Thomasschule besucht, bezog er, achtzehn Jahre alt, die Universität seiner Vaterstadt, um daselbst Medicin zu studiren. Bei seinem Eintritte in die Universität war Schreber schwächlich organisirt und von dürftiger Gestalt. Aber seine Ausdauer in körperlichen Uebungen machte aus ihm einen kräftigen Mann, einen ausgezeichneten Turner, einen tüchtigen Schwimmer und Reiter, kurz, einen Meister in jeder ritterlichen gymnastischen Uebung.

Diese Erfahrung an sich selbst ward der fruchtbringende Ausgangspunkt alles dessen, was er in Wort, Schrift und That auf den Gebieten des Turnens und der Heilgymnastik, der Jugenderziehung gewirkt hat. 1833, nach Beendigung seiner Studien und Erlangung der Doctorwürde, begleitete Schreber einen russischen Edelmann als Arzt auf dessen Reisen durch Deutschland und Rußland, besuchte sodann behufs weiterer wissenschaftlicher Ausbildung die Universitäten Wien, Prag und Berlin, ließ sich dann 1836 als praktischer Arzt in Leipzig nieder und habilitirte sich zugleich als Privatdocent an der Universität. Die bisher geltenden Ansichten auf dem Gebiete der Heilkunde entsprachen nicht immer seinem Denken und Forschen, er ging eigene Wege, wie viele seiner Schriften beweisen. So unter anderen „Das Buch der Gesundheit“ (1839), „Die Kaltwasser-Methode“ (1843) und anderes. Er wollte eine Kinderheilanstalt errichten, seine Bemühungen waren aber erfolglos, sowie die 1843 an Regierung und Stände eingereichte Schrift: „Das Turnen vom ärztlichen Standpunkte, zugleich als eine Staatsangelegenheit dargestellt“.

Schreber ließ sich dadurch nicht irre machen, im Jahre 1845 gründete er im Verein mit den Professoren Bock und Biedermann den noch heute blühenden Turnverein, dem er lange Jahre hindurch als Turnrath und Vorsitzender angehörte. Das Jahr vorher übernahm er von Professor Carus eine orthopädische Heilanstalt, erweiterte und vergrößerte dieselbe und führte auf diesem Gebiete eine Anzahl wichtiger, segensreicher Reformen ein. Eine Reihe vortrefflicher Schriften über Turnen und Heilgymnastik, von denen manche vielfache Auflagen erlebten, gingen aus diesen Studien und Beobachtungen hervor. Die orthopädische Heilanstalt besteht noch heute unter Leitung von Dr. Schildbach, dem Freunde und ehemaligen Mitarbeiter Schreber’s, und hat sich immer ihren guten alten Ruf, trotz vieler Concurrenz, zu bewahren gewußt.

Im Jahre 1858 endlich erschien Schreber’s Hauptwerk: „Kallipädie oder die Erziehung zur Schönheit des Körpers und Geistes durch harmonische Veredelung der ganzen Menschennatur.“ Dieses in jeder Hinsicht ausgezeichnete Werk ist seltsamer Weise ziemlich unbekannt geblieben. Es mag dies seinen Grund in dem fremd klingenden Titel haben. Vor Kurzem ist es von dem Leipziger Professor Dr. Hennig in zweiter Auflage herausgegeben worden.[1] Es behandelt die gesammte körperliche und geistige Ausbildung, „die harmonische Durchbildung des Menschen nach Geist und Charakter und physischer Vollkraft“; da ruft Schreber aus: „Körperliche Gesundheit vor Allem, denn sie bedingt die Gesundheit der Seele: den Frohsinn. Dieser aber öffnet die Seele allen guten Eindrücken und Aeußerungen, selbst den größten Kraftäußerungen edler Willenskraft. Er ist die Lebenssonne, unter welcher allein alle edlen Keime der kindlich-geistigen Grundkräfte emporkommen und gedeihen, unter welcher sie leichter der erzieherischen Entwickelung zugängig sind, während umgekehrt körperlicher Druck die Entwickelung der Keime der geistigen Schatten – und Giftgebilde fördert. Dem kindlichen Alter fehlt noch die Kraft, sich trotz körperlicher Noth über diese hinaus zur Höhe des Frohsinns zu erheben, wie es dem gestählten Charakter eines gereiften Menschen zuweilen gelingt. Alle Fehler der körperlichen Erziehung erschweren, ja untergraben daher zugleich die geistige Erziehung.“

Gar scharf weist er die Eltern auf ihre Pflichten hin.

„Die Frage: Wo und von wem wird im Allgemeinen die Erziehung am besten vollführt werden? könnte fast überflüssig erscheinen, da die Antwort: von wem anders als von den Eltern, als eine so natürliche, selbstverständliche der Frage auf dem Fuße folgt. Und doch scheint in unserer Zeit gerade der umgekehrte Brauch immer mehr und mehr einzureißen. In gefährlicher, die eigene Schwäche zu bemänteln suchender Selbsttäuschung schieben die Eltern fast die ganze Last, Verpflichtung, Verantwortlichkeit der Erziehung erst den Lehrern zu, die doch hauptsächlich für Unterricht zu sorgen haben, dagegen, besonders in den Schulen, die Möglichkeit der Erziehung des Körpers, des Charakters, des Gemüths in einem auch nur nothdürftig ausreichenden Grade gar nicht mehr in den Händen haben, obschon auch ihre unterstützende Mitwirkung zur Erziehung unentbehrlich ist. Oder man entfernt die Kinder möglichst bald aus dem elterlichen Hause, um sie Pensionaten, Lehr- und Erziehungsanstalten vollständig zu übergeben, in der Meinung, so das Seinige gethan zu haben, ungünstigen Falles wenigstens – seine Hände in Unschuld waschen zu können. Sagen wir es kurz: die elterliche Erziehung droht aus der Mode zu kommen, auch in unserem deutschen Vaterlande, welches doch den Ruhm der Innigkeit des Familienlebens sich noch am meisten gewahrt hat. Wir meinen hier natürlich nicht diejenigen Fälle, wo durch unvermeidliche Nothwendigkeit die Erziehung den Händen der Eltern entwunden wird; nein, es ist hier die Rede von den leider in zunehmender Häufigkeit auftretenden Fällen, wo die Scheingründe, hinter denen sich die Schwäche, Bequemlichkeit, Vergnügungssucht, blasirte Modelaune und wohl noch manches andere Unedle der Eltern verbirgt, die Kinder um den Segen der elterlichen Erziehung bringen.“

Dann richtet Schreber ein ernstes Wort an die Väter, denen er die Hauptschuld des Verfalles der heutigen Familienerziehung vorwirft.

„Sind es nicht Schwächen, wenn wir Väter Dieses oder Jenes von häuslichen Angelegenheiten, was gemeinschaftlich getragen oder durchgeführt werden sollte, auf den Schultern der Frau oder anderer Glieder des Hauses allein liegen lassen; oder wenn wir im Hause stets und auch in Nebendingen auf Kosten höherer Rücksichten unser Ich, unsere persönliche Neigung, Bequemlichkeit u. dergl. obenan gestellt wissen wollen; oder wenn wir aus Zerstreuungssucht, aus vermeintlich socialen Rücksichten ernstere Pflichten gegen die Familie hintansetzen, die Früchte der Erziehung nur genießen, nicht aber auch entwickeln und ausbilden helfen wollen? Wer von uns Vätern könnte sich von allen diesen Schwächen vollkommen freisprechen? Blicke jeder auf sein Leben zurück, und – die Hand auf’s Herz – wir müssen alle mehr oder weniger ein derartiges ‚Schuldig‘ über uns aussprechen.“

Das sind Worte, welche die Zustände unseres heutigen Familienlebens, unserer heutigen Kindererziehung bis in’s Innerste treffen. Als Arzt und als Pädagog entwirft nun Schreber in eingehender Weise in diesem Werke ein allgemeines, dabei aber immer auf alle Fälle anwendbares Bild des Erziehungsganges vom Säuglingsalter an bis zum Uebergange zur Selbstständigkeit, also bis etwa zum zwanzigsten Lebensjahre, dabei die körperliche Seite und die geistige Seite gleichmäßig behandelnd. Der Herausgeber der neuen Auflage erklärt in Beziehung auf diese Schrift:

„Das Streben Schreber’s, ein gesundes, unsere Vorfahren abspiegelndes Geschlecht heranzubilden, sein geistiges Wohl und sein Gemüthsleben gleichmäßig wie das körperliche zu bedenken, wird von wenigen Erziehungsschriften erreicht, von keiner übertroffen.“

Allen Eltern, Erziehern und Lehrern muß dies Werk als ein Hausschatz köstlichster Art empfohlen werden. In dem unermüdeten Streben, ein gesundes Geschlecht heranzuziehen, wandte sich Schreber auch an die „Gartenlaube“. Im Jahre 1860 (S. 414) erschien darin sein berühmter Aufsatz: „Die Jugendspiele in ihrer gesundheitlichen und pädagogischen Bedeutung“, in welchem der wackere Mann goldene Worte zu den Herzen des deutschen Volkes sprach, aber sie verhallten zunächst erfolglos. Dr. Schreber hat es nicht erlebt, daß sich seine Ideen verwirklichten. Am 10. November 1861 starb er im kräftigsten Mannesalter. Aber die Saatkörner, die er so reichlich ausgestreut, sollten gute Frucht bringen. Die Gegenwart wird ihm gerecht, denn alle seine Forderungen fingen an sich zu verwirklichen.[2]


  1. „Das Buch der Erziehung an Leib und Seele. Für Eltern, Erzieher und Lehrer von Dr. D. G. M. Schreber. 2. Auflage durchgesehen und mit Rücksicht auf die Erfahrung der neueren Kinderheilkunde erweitert von Professor Dr. C. Hennig, Director der Kinderheilanstalt zu Leipzig.“ Leipzig, Friedrich Fleischer.
  2. Vergl. Eduard Mangner: Dr. G. M. Schreber, ein Kämpfer für Volkserziehung. Leipzig, C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_370.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2024)