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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

der Verwalter oder Beamten des Schlosses, die oft durch das Dorf ritten. Als aber die Frage wiederholt wurde, brach er in erneutes Weinen aus.

„Ich soll fort vom Großvater – weit fort nach dem Grundsee – und ich darf nicht wieder kommen, der Herr Pfarrer hat es gesagt!“

„Wer ist denn Dein Großvater?“ fragte Raimund, indem er sein Pferd dicht an die Hecke lenkte.

„Eckfried heißt er,“ schluchzte der Kleine, „und ich bin der Toni vom Mattenhof. Ich mag nicht fort von dem Großvater, und er mag mich auch nicht fortlassen, aber der Herr Pfarrer leidet es nimmer, daß ich bei ihm bleibe.“

Der Freiherr stutzte und warf einen langen, seltsamen Blick auf das Kind. Er verstand jetzt die Worte Vilmut’s und sah, welche Strafe dem alten Manne auferlegt worden war, der mit abgöttischer Liebe an seinem Enkel hing, dem Einzigen, was er noch auf der Welt besaß.

„Jawohl, der Herr Pfarrer versteht es, Herzen zu treffen, darin ist er Meister,“ sagte er bitter. „Also Du willst nicht fort von Deinem Großvater?“

Toni blickte halb scheu, halb zutraulich zu dem Fremden empor, aber er hörte auf zu weinen, als er Mitleid und Theilnahme fand, und als der Freiherr weiter fragte, begann er nach Kindesart alles Mögliche herauszuplaudern. Dabei versiegten seine Thränen vollständig, und endlich vergaß er all sein Leid in der Bewunderung des schönen Tigerschimmels.

„Darf ich das Pferd streicheln?“ fragte er und hob bittend die Hände empor.

„Du kannst es ja nicht erreichen,“ sagte Raimund mit einem flüchtigen Lächeln.

„O doch, das kann ich!“ rief Toni, indem er ohne Weiteres den Gartenzaun erkletterte, in der nächsten Minute schon saß er droben und begann noch etwas zaghaft das glänzende Fell des Pferdes zu streicheln. Emir nahm anfangs die Liebkosung ungnädig auf und schnaubte ungeduldig, aber auf einen Zuruf seines Herrn beruhigte er sich sofort und duldete die schmeichelnde Kinderhand. Toni war ganz entzückt darüber, aber er wurde immer begehrlicher.

„Ich möchte so gern einmal reiten,“ sagte er mit einem sehnsüchtigen Blicke auf das Pferd.

Raimund lächelte wieder und, sich niederbeugend, nahm er das Kind und hob es vor sich auf den Sattel. Toni jauchzte auf vor Vergnügen, er schlug jubelnd in die Hände und versuchte mit lautem Zuruf das Pferd anzutreiben, der Freiherr mußte schützend die Arme um den keinen Wildfang legen, um ihn vor dem Herabfallen zu bewahren.

Es war das erste Mal seit Jahren, daß er wieder irgend ein Wesen in den Armen hielt, daß sich irgend Etwas vertraulich und freundlich an ihn schmiegte. Er hatte ja sonst nur seine Diener um sich, die in scheuer Ehrfurcht kamen und gingen; wenn er sein Schloß verließ, so war er nur von Feinden umgeben, die ihn haßten und verfolgten, und was er liebte, stieß ihn mit Schauder und Entsetzen von sich. Er hatte seine ganze grenzenlose Vereinsamung vielleicht noch nie so tief gefühlt, wie in dieser Minute, und mit einer beinahe leidenschaftlichen Innigkeit preßte er das fremde Kind an sich, dessen Zutraulichkeit ihm zum ersten Mal wieder das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Menschen gab. Es gab doch also noch ein Geschöpf, das sich nicht in Haß und Furcht von ihm wandte – er hob leise das blonde Krausköpfchen empor und sah tief in die blauen Augen, die ihn jetzt schelmisch anlachten.

„Toni, wo bist Du? Was soll das heißen?“ tönte plötzlich die scharfe Stimme Vilmut’s. Er war in den Garten getreten, um den Knaben zu suchen, und sah mit dem höchsten Befremden die Gruppe.

Toni, der trotz seines kurzen Aufenthaltes im Pfarrhause doch schon die Strenge des geistlichen Herrn kennen gelernt haben mochte, sah ängstlich zu diesem hinüber und machte Miene, von Neuem zu weinen, Raimnnd aber sagte kühl, ohne das Kind loszulassen:

„Sie sind es, Hochwürden? Ich höre eben von dem Kleinen, daß er auf Ihren Befehl von seinem Großvater getrennt werden soll, und errathe den Zusammenhang. Erlassen Sie dem Eckfried die Strafe; seine That war gegen mich allein gerichtet, ich verzichte auf die Genugthuung.“

Vilmut war inzwischen näher gekommen und stand jetzt gleichfalls dicht an der Gärtenhecke.

„Ich bedauere, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können, Herr von Werdenfels,“ entgegnete er. „Eckfried hat eine Schuld auf sich geladen – gegen wen, kommt hier nicht in Betracht – und ich als sein Beichtvater habe ihm eine Buße dafür auferlegt, die er tragen wird. Komm herunter, Toni!“

Die letzten Worte klangen sehr befehlend. Toni konnte nicht allein seinen hohen Sitz verlassen, er sah zu dem Freiherrn empor, ob dieser ihn herunterholen werde, aber es lag eine stumme, angstvolle Bitte in diesem Blicke. Das Kind fühlte instinctmäßig, daß es einen Beschützer gefunden hatte, es schmiegte sich fest an ihn und umklammerte mit beiden Händen seinen Arm.

„Ich bringe den Knaben zu seinem Großvater,“ sagte Raimund kurz und bestimmt. „Sie werden entschuldigen, Hochwürden, wenn ich ein derartiges Strafgericht nicht gelten lasse.“

Er faßte den Zügel und machte Anstalt, weiter zu reiten. Vilmut widersprach nicht, aber es spielte ein leises hohnvolles Lächeln um seine Lippen, als er langsam und jedes Wort betonend sagte:

„Toni, willst Du bei dem Fremden bleiben? Es ist der Felsenecker Herr!“

Toni fuhr zusammen, mit weitgeöffneten Augen, mit dem Ausdruck des vollsten Entsetzens starrte er den Freiherrn an, als habe sich dieser plötzlich in ein Schreckensbild verwandelt, dann aber machte er blitzschnell einen Versuch vom Pferde zu springen und wäre gestürzt, wenn Raimund ihn nicht rasch erfaßt und gehalten hätte. Jetzt aber sträubte sich das Kind mit krampfhafter Heftigkeit gegen die Arme, in denen es eben noch Schutz gesucht hatte, sein ganzer kleiner Körper bebte und zitterte, während es ein lautes Angstgeschrei ausstieß. Es hätte sich gegen einen Mörder nicht verzweifelter wehren können, das eine Wort: der Felsenecker! genügte, um all seine Zutraulichkeit in blindes Entsetzen zu verwandeln.

Raimund sprach kein Wort, er erfaßte den Knaben und ließ ihn vom Pferde niedergleiten. Toni gewann die Hecke, aber er sprang in athemloser Hast zu Boden und rannte auf den Priester zu, hinter dem er sich zu verstecken suchte. So sehr er diesen auch fürchtete, es war doch immer der Herr Pfarrer, und der Mann dort auf dem Pferde war der leibhaftige Böse!

Gregor stand hochaufgerichtet da, und der Hohn spielte noch um seine Lippen. Er war wieder einmal Sieger geblieben in dem Kampfe, seine Hand führte fest und sicher den tödtlichen Stoß auf den Gegner, und diesmal hatte er getroffen, das sah man. Raimnnd warf noch einen Blick zurück, nur einen einzigen, dann setzte er seinem Roß die Sporen in die Seite, daß es sich hoch aufbäumte, und sprengte davon.

Im Dorfe herrschte in der That eine ungewöhnliche Aufregung, selbst die Frauen standen vor den Thüren und sprachen laut und erregt mit einander. In der Mitte der Dorfstraße aber, wo das Haus des Gemeindevorstehers lag, hatte sich fast die ganze Bevölkerung versammelt, es schien dort irgend eine Berathung stattzufinden, aller Augen waren auf die Thür gerichtet, und der Pfarrer mußte wohl schon die Nachricht gebracht haben, daß der Schloßherr auf seinem Willen beharre, denn in der Menge, die aus einigen hundert Personen bestehen mochte, wurden überall Drohungen und Verwünschungen gegen den „Felsenecker“ laut.

Raimund sah und hörte das in dem Augenblick, wo er in die Dorfstraße einbog, er wußte sehr gut, daß ihm dort Gefahr drohte, aber seine Stimmung war nicht danach, der Gefahr auszuweichen. Die eben erlebte Scene hatte ihm gezeigt, wie weit der Bann ging, den Gregor Vilmut über ihn ausgesprochen. Er hatte es gewagt, ein Kind in die Arme zu schließen, das noch gar kein Verständniß für Haß und Feindseligkeit besaß, und selbst von diesem Kinde mußte er Haß und Feindseligkeit erfahren. Der Mann hatte so Vieles erfahren in den letzten Monaten, dies entsetzte Abwenden des Knaben, der sich eben noch vertrauend an ihn geschmiegt hatte, ertrug er nicht, es war der Tropfen, der das längst gefüllte Maß der Bitterkeit zum Ueberlaufen brachte.

Die lärmende Menge war anfangs viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um den nahenden Reiter zu bemerken, endlich wurde er doch von einem der Bauern entdeckt, der laut ausrief:

„Da ist er! Da kommt der Felsenecker!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_366.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2024)