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verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

seit er damals mitten im Sturme durch das Dorf gefahren war, aber dieser Zufall gab dem Aberglauben, der sich an seine Person knüpfte, neue Nahrung.

Jenes Unwetter war schwer und verhängnißvoll gewesen, es hatte in der Umgebung des Dorfes viel Schaden angerichtet, und gerade in diesem Sturme war Werdenfels gekommen. Er hätte keine schlimmere Zeit zu seiner Ankunft wählen können; die Leute schworen darauf, er habe ihnen das Unheil gebracht.

Inzwischen war der Sonntag herangekommen, der nach trüben, stürmischen Tagen endlich wieder helleres Wetter brachte. Der Gottesdienst war soeben zu Ende und auf dem Platze vor der Kirche stand noch die ganze Gemeinde in einzelncn Gruppen beisammen. Bei dieser Gelegenheit wurden gewöhnlich die Ereignisse der Woche besprochen, und diesmal lagen zwei Dinge von höchster Wichtigkeit vor: die Ankunft des Freiherrn von Werdenfels und das Heldenstück des Herrn Pfarrers.

Das ganze Dorf wußte, daß Gregor Vilmut in jener Sturmnacht im Mattenhofe gewesen war, um der Tochter des alten Eckfried die Sterbesacramente zu reichen. Die Bauern kannten hinreichend den Weg, wo man in solchem Wetter bei jedem Schritt bergaufwärts sein Leben wagte. Von ihnen hätte es kein Einziger gewagt, aber eben deshalb rechneten sie ihrem Pfarrer seinen Muth um so höher an. Es war nur eine Stimme ehrfurchtsvoller Bewunderung, wenn man von ihm sprach.

Frau von Hertenstein war mit ihrer Schwester und Fräulein Hofer zu dem versprochenen Besuche im Pfarrhause eingetroffen. Sie hatten gleichfalls dem Gottesdienste beigewohnt, und Anna sprach soeben mit dem alten Eckfried, der an der Kirchthür stand. Er trug heute sein Sonntagsgewand, das freilich auch dürftig genug war, und hielt einen Knaben von etwa vier Jahren an der Hand. Es war ein hübsches Kind, mit einem frischen, rosigen Gesicht, blondem Kraushaar und klaren blauen Augen, und es sah ohne jede Schüchternheit zu der jungen Frau empor.

„Also Ihr habt den kleinen Toni mitgebracht,“ sagte diese. „Er gleicht sehr seiner verstorbenen Mutter, er hat ganz die Züge Eurer Tochter.“

„Seinem seligen Ohm gleicht er noch mehr,“ versetzte Eckfried mit einem langen, düsteren Blick in das Gesicht des Kindes. „Er ist meinem armen Toni wie aus den Augen geschnitten. Man sollte meinen, es wär’ sein eigener Sohn, und er heißt ja auch nach ihm.“

„Und Ihr wollt Euren Enkel wirklich bei Euch behalten?“ fragte Anna, indem sie sich mitleidig zu der kleinen Waise niederbeugte.

Der Alte nickte.

„Ja, gnädige Frau, er bleibt bei mir. Der Herr Pfarrer meint freilich, daß ich mir eine Last auflade mit dem Buben, aber ich kann’s nicht ändern.“

Er brach ab und zog eilig den Hut, denn soeben trat der Pfarrer, der inzwischen in der Sacristei die priesterlichen Gewänder abgelegt hatte, aus der Kirchthür, und jetzt sah man es deutlich, welche Stellung Gregor Vilmut in seiner Gemeinde einnahm. Man hätte den Landesherrn nicht ehrfurchtsvoller begrüßen können, Alles drängte heran, um noch einmal den Segen des hochwürdigen Herrn zu empfangen, und Jeder war glücklich, wenn er eines besonderen Grußes oder einer Anrede gewürdigt wurde.

Eckfried war unter diesen Glücklichen; der Pfarrer trat eigens heran, als er den Knaben gewahrte.

„Ihr bleibt also bei Eurem Entschluß?“ fragte er. „Ihr werdet Mühe haben, den Buben durchzubringen, Ihr habt ja kaum das Brod für Euch selbst.“

„Es geht nicht anders, Hochwürden!“ versetzte der Alte. „Sie wissen ja, wie es im Mattenhof steht; der Hof ist über und über verschuldet und soll jetzt verkauft werden. Mein Schwiegersohn – nun, Sie kennen ihn ja – viel Gutes ist nicht an ihm, und die Stasi hat eine schwere Zeit bei ihm durchgemacht. Jetzt will er nach Amerika, da ist ihm der Bube nur eine Last, und er ist froh, daß er ihn los wird. Er würde ihn schlecht halten, und wenn er drüben wieder freit, wär’s vollends aus. Da habe ich mir den Toni genommen. Wo ich mein Brod finde, kommt er auch noch durch, und er ist ja das Letzte, was ich noch habe, sonst ist mir ja nichts übrig geblieben.“

Er strich mit seiner schwieligen Hand leise über das Haar des Kindes; es lag eine eigenthümliche Zartheit in dieser Bewegung, und in seinen verwitterten, durchfurchten Zügen zuckte es seltsam.

Auch Vilmut sah auf den verwaisten Kleinen nieder, aber es lag weder Güte noch Freundlichkeit in diesem Blick, nur scharfes, prüfendes Forschen.

„Haltet den Buben streng, Eckfried,“ sagte er. „Bei dem Vater hat er nichts Gutes gesehen und die Mutter hat ihn verzärtelt, macht Euch nicht der gleichen Schwäche schuldig. Kinder muß man in strenger Zucht halten, wenn etwas aus ihnen werden soll. Laßt es nicht daran fehlen!“

Der kleine Toni mochte wohl fühlen, daß die Worte des geistlichen Herrn nicht viel Wohlwollen enthielten; denn er schmiegte sich ängstlich an den Großvater.

Vilmut sprach noch mit Diesem und Jenem und verließ dann mit Frau von Hertenstein den Kirchplatz, während die beiden anderen Damen folgten. Als man bei dem Pfarrhause angelangt war, ergriff Lily die Gelegenheit und erklärte, sie wolle noch vor Tische einen Spaziergang machen.

„Wozu das?“ fragte Vilmut tadelnd. „Du bist kein Kind mehr, und für ein junges Mädchen schickt sich dieses einsame Herumstreifen nicht. Geh’ in den Garten, da hast Du Luft und Bewegung genug.“

Lily erschrak; denn sie dachte an das Rendez-vous bei den Haselnüssen. Was sollte aus dem armen jungen Baron werden, der dort so sehnsüchtig auf die versprochene Nachricht harrte? Zum Glück legte sich Anna in das Mittel und bat für ihre Schwester. Gregor machte ein finsteres Gesicht, ließ sich aber doch schließlich erbitten, und Lily, froh der erhaltenen Erlaubniß, eilte davon.

„Ich werde Dich auch noch auf eine halbe Stunde verlassen müssen,“ sagte Vilmut zu der jungen Frau, als er mit ihr in das Haus trat. „Ich muß bei dem Bachmüller einen Krankenbesuch abstatten, werde aber jedenfalls zu Mittag zurück sein, und Du bist ja keine Fremde im Pfarrhause.“

Lily war inzwischen durch das Dorf gegangen, aber am Ende desselben bog sie schleunigst vom Wege ab und nahm die Richtung nach dem Schloßberg. Sie befand sich eigentlich in einiger Verlegenheit, denn ihre Mission, welche sie mit ebenso viel Begeisterung als Zuversicht übernommen hatte, war vollständig mißglückt.

Anna hatte ihre Bitten und Vorstellungen gar nicht angehört, ihr vielmehr sehr ernstlich jene unpassende Vertraulichkeit mit dem jungen Baron verwiesen. Die arme Kleine hatte es wieder einmal anhören müssen, daß sie in ihrem Alter noch gar nichts von solchen Dingen verstehe und sich wie ein unverständiges Kind benommen habe. Seitdem war es ihr nicht geglückt, daß Gespräch wieder auf diesen Gegenstand zu bringen, die Schwester zeigte sich völlig unzugänglich, sobald nur der Name Werdenfels genannt wurde.

Das durfte man nun freilich dem armen Paul nicht sagen. Er war im Stande, gleich auf der Stelle die Pistole zu laden, wenn ihm der letzte Trost genommen wurde. Lily sah ein, daß sie sehr vorsichtig zu Werke gehen müsse, wenn sie ein Menschenleben retten wollte, und das wollte sie unter allen Umständen. Sie machte sich deshalb auch gar keine Gewissensbisse über diese geheime Zusammenkunft, denn sie war sich bewußt, nur aus rein menschenfreundlichen und schwesterlichen Rücksichten darein gewilligt zu haben. Sie selbst kam ja dabei gar nicht in das Spiel.

Paul stand verabredetermaßen bei den Haselsträuchen, wo er bereits seit einer halben Stunde wartete. Er war im Jagdanzuge und trug die Flinte über der Schulter, denn er hatte es aus Rücksicht für das junge Mädchen doch nöthig gefunden, seinem Hiersein das Ansehen einer ganz zufälligen Jagdstreiferei zu geben. Zum Glücke war das Gehölz am Fuße des Schloßberges, wenn auch blätterlos, doch dicht genug, um die Beiden vor unberufenen Augen zu verbergen. Sie begrüßten sich und schüttelten sich freundschaftlich die Hände, wie das bei nahen Verbündeten Sitte ist.

„Ich bin so froh, daß Sie noch am Leben sind!“ sagte Lily aus Herzensgrunde.

„Ich wäre viel lieber todt!“ versicherte Paul melancholisch.

Lily sah ihn an, er war in der That noch recht blaß, aber er sah in dieser Blässe so hübsch und interessant aus, viel hübscher

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