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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

nieder. Plötzlich richtete sie sich mit leidenschaftlichem Ausdrucke hoch auf und rief fast befehlend:

„Mein Sohn!“

„Du hast keinen Sohn mehr,“ sagte er finster und trat hinweg. Dann wandte er sich, um nach der Möglichkeit zu spähen, dieses Haus zu verlassen, ohne noch einmal durch das Fegefeuer fremder Blicke zu gehen. Das kleine Zimmer hatte keinen eigenen Ausgang. Ein leises Geräusch, wie aus weiter Ferne kommend, wie eine dumpfe Erinnerung an etwas schon Gewußtes, berührte sein Ohr. Es fiel ihm ein, daß es das Plätschern des Springbrunnens war. Sein Blick flog nach dem offenen Fenster.

Im nächsten Momente hatte er sich hinausgeschwungen, mit wenigen Schritten den Hof durchmessen und sich in eines der Cabriolets geworfen die vor dem Gitter hielten. – –

Das Gefühl, fliehen zu müssen welches Siegmund nach seinem Hôtel zurückgeführt, stachelte ihn ebenso unbarmherzig in dessen vier Wänden. „Fort, nur fort!“ war sein einziger. bewußter Gedanke, alles Andere ein wildes Chaos. Doch wohin? Als diese Frage vor ihm aufsprang, nahm sein Elend plötzlich Gestalt an: er sah sein Leben wie mit einem scharfen Schnitt in zwei Stücke zertrennt. Was es gewesen, war dahin, unwiderruflich zerstört. Wohin konnte er wohl gehen? An den Ort, von dem er gekommen, zurück in seinen Beruf? Unmöglich! Was ihm über Allem stand, seine persönliche Ehre war beschimpft. Er warf beide Hände vor sein brennendes Gesicht, und ein Stöhnen brach aus der gequälten Brust. Doch gab er sich keinem Brüten hin; er wollte ja fort; ihm graute vor dem Anbruch des Tages, vor der Möglichkeit, von seiner Mutter, von Horn, hier gesucht und gefunden zu werden. Entschlossen das Hôtel sofort zu verlassen und den nächsten Bahnzug zu benutzen, der aus Paris hinwegführte, gleichviel nach welcher Richtung, warf er hastig Einiges, was er diesen Mittag herausgenommen, in den Koffer zurück. Die Nacht mußte weit vorgerückt sein; er sah nach seiner Uhr. Da ging es ihm auf einmal wie ein Nebel über die Augen, daß er die Zahlen nicht mehr unterschied. Diese Uhr, ein Kleinod ihrer Art, war ein Geschenk seiner Mutter, das ihn sehr erfreut hatte. Nun faßte ihn ein Grauen davor. Alles, Alles was er besaß, der verhältnißmäßige Luxus, in welchem er seit Jahren hingelebt, um den die Cameraden ihn manchmal beneidet hatten, Alles entstammte einem Sumpfe. Es überlief ihn, als hätte er sich im Dunklen von einer eklen Speise genährt und sähe nun im neuen Lichte des Tages, wovon er genossen. Nie, niemals konnte er Einem von Denen, mit welchen er schöne, stolze Jahre zusammen verlebt, vor die Augen treten – unter der Erde hätte er sich verbergen mögen. Und weshalb nicht das? Wozu die Bürde eines Lebens weiter tragen, das ihm keine Güter mehr zeigte, an dem Alles ihn anwiderte? Aber auch in der Vorstellung des Aufhörens fand er keinen Trost. Das war keine Lösung; die Schande blieb haften Wüßte er nur erst, wohin jetzt! Da fiel ihm die Moosburg ein, und der Gedanke war wie ein Lufthauch für einen Erstickenden. Dorthin wollte er gehen; dieser Fleck Erde war sein, sein einziger unbesudelter Besitz. Am Tage, als er mündig geworden, hatte Genoveva ihrem Sohne den Kaufact der Burg als Eigenthum übergeben. An diesem Erbe seines Vaters klebte keine schmähliche Erinnerung; denn dort lag und stand heute noch Alles wie in seiner Kinderzeit, in der Zeit, als die Hände seiner Mutter noch rein gewesen.

Im blassen Zwielicht des ersten Morgengrauens fuhr er nach demselben Bahnhof, aus dem er gestern mit Befürchtungen eingetroffen war, die ihn sehr gequält. Was lag ihm heute daran, ob schon sein erster Athemzug mit Schande zusammengehangen oder nicht? Es hatte das nichts mehr zu bedeuten. Er legte die wechsenden Stationen seiner Reise zurück, ohne in seiner Stumpfheit darauf zu achten wie Orte und Tageszeiten vorübergingen.

Als er in Lahnegg eintraf, war der Abend schon herein gebrochen Er beauftragte den Postilion sein Gepäck auf der Post einzustellen und ging im Schutze der Dunkelheit unerkannt seinem Hause zu. Es kostete einige Mühe, dessen Hüter herauszuklopfen, welche bereits zu Bette gegangen waren. Seit Jana’s Verheirathung war Klas, der frühere Knecht, zur Aufsicht über die Moosburg bestellt worden. Er und sein Weib staunten nicht wenig, als sie gewahr wurden, es sei „der junge Herr“, welcher so spät und ungemeldet Einlaß begehrte. Sein verstörtes Aussehen fiel selbst diesen Leuten auf, aber sie unterstanden sich nicht, ihn zu fragen, ob die anderen Herrschaften nachkämen. Die Zimmer waren in guter Ordnung. Rasch besorgte die Frau das für die Nacht Nothwendigste und ließ Siegmund dann allein.

Hier in diesem trauten alterthümlichen Zimmer, das für den Knaben eingerichtet worden, seit er nicht mehr in dem seiner Mutter schlief, hier sprengte unbändiger Schmerz die Starrheit, welche den Unglücklichen bisher nahezu versteinerte. Schluchzend wie ein Kind, warf er sich über das Bett hin, dessen Kissen die Hand seiner Mutter so oft geglättet, wo er noch als reifender Knabe oft ihren Gute-Nacht-Kuß empfangen hatte. Jede Stunde dieser Nacht füllte sich ihm mit Bitternissen des Todes.

Am nächsten Morgen äußerte er sich gegen Klas darüber, daß er einige Zeit hier verweilen würde, sich nicht wohl befände und deshalb für etwa anfragende Besucher nicht zu sprechen sei. Dann setzte er in vorschriftsmäßiger Form ein Gesuch um Verabschiedung als Officier auf, couvertirte und sandte Klas damit nach Lahnegg, um das Schreiben heute noch der Post zu übergeben. momentan lag eine gewisse Erleichterung für ihn darin, etwas Nöthiges, Dringliches gethan zu haben. Nun gab es aber nichts mehr zu thun.

Als er gegen Abend neben dem offenen Mittelfenster des Terrassenzimmers saß und die Augen auf den goldig beglänzten Strom geheftet hielt, öffnete sich die Thür, und Lois trat ein. Siegmund, der das Klopfen überhört hatte, fuhr zusammen, ging aber ohne Zögern dem Caplan entgegen, dessen ruhige Stimme von der Schwelle her sagte:

„Für mich wird die Ordre, Niemand herein zu lassen, doch wohl nicht gelten?“

Die Freunde boten einander die Hand und sahen sich schweigend an. Selbst in dieser Stunde ward Siegmund durch die Veränderung betroffen, welche seit seinem letzten Hiersein mit Lois vorgegangen. Er war hager geworden, sein Gesicht eingefallen; die Augen lagen noch tiefer, waren noch tiefblickender geworden, als früher. Tiefe forschenden Augen hafteten ernst auf Siegmund, als er sagte:

„Klas meint, Du wärst vorerst krank, und wirklich, Du siehst elend ans.“

„Das Compliment muß ich Dir zurückgeben“ antwortete Siegmund; „mir fehlt übrigens nichts. Erzähle mir, wie es hier mit Euch Allen steht! Wir haben uns lange nicht gesehen, und ich weiß gar nichts mehr von Land und Leuten. Da war es wohl Zeit, sich einmal selbst umzuschauen.“

Er sprach das hastig hin, mit abgewendetem Gesicht, rückte einen Stuhl herbei und warf sich wie ein Todtmüder, der nicht länger zu stehen vermag, auf den Sitz am Fenster.

„Siegmund,“ sagte Lois, die Hand auf seiner Schulter. „Dir ist etwas geschehen. Denke daran, wie wir mit einander groß geworden, und wenn ich Dir auch nicht helfen kann, laß mich es mit Dir tragen!“ .

Ein Schauer lief über Siegmund hin.

„Ja wohl,“ nickte er, „etwas geschehen!“

Er hielt inne. Das Fremde, Starre, was Lois im ersten Moment an ihm erschreckt hatte, schnitt jedes Fragen und Drängen ab. Tiefe Sorge ergriff den jungen Priester; er legte still den Arm um ihn und sagte in sanftem Tone:

„Sigi!“

Dieser Kindheitsklang, das Liebeswort frühester Jahre, erschütterte das arme Herz tiefer, als jedes Zusprechen vermocht hätte. Er stützte die Stirn an des Jugendfreundes Schulter.

„Ich kann es Keinem sagen – Keinem!“

„Keinem Andern vielleicht, keinem Fremden. Dem Priester, Sigi, kannst Du Dein Herz entladen. Das Wort erlöst und heilt. Ich flehe Dich an, vertraue mir!“

Er schüttelte den Kopf. Die Schande seiner Mutter zu enthüllen – diesem, der sie gekannt und geliebt – Alles in ihm sträubte sich dagegen. Und doch war ihm die Nähe, das stille Wesen des Freundes wie Balsam. Und die stumme Qual der jüngsten Tage und Nächte rang nach Befreiung.

Minuten waren vergangen – da sagte Siegmund mit gebrochener Stimme:

„Du wirst es nicht fassen, aber sagen will ich es Dir. Denke, es sei eine Beichte, und verschließe es wie auf Deinen Eid!“

Und nun kam sie hervor, die jammervolle Geschichte, stockend erst und abgebrochen in wachsender Bitterkeit, alles Erlebte, Erlittene, vom ersten Zweifel an bis zum schaurigen Ende.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_736.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)