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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Aufhebung der Leibeigenschaft die ersten Spuren des Nihilismus in seiner heutigen Gestaltung zu Tage traten. Damals – etwa im Jahre 1881 – bildeten sich die ersten geheimen Gesellschaften und zwar selbstverständlich zumeist aus den Reihen der Jugend. Die „Glocke“ Herzen’s hatte nicht umsonst geläutet. Was diese Gesellschaften wollten, das war zunächst noch bescheiden genug: Beseitigung der administrativen Verschickung, Säuberung des Beamtenthums und – ein wenig Verfassung.

Man hatte nicht viel daheim gelernt, aber man hatte, was unter dem Czar Nikolaus nicht so leicht gewesen war, Pässe zu Reisen in’s Ausland erhalten; da hatte man gelernt, wessen sich die übrige Welt an politischer Reife und persönlicher Freiheit erfreuen durfte. Man hatte auch popularisirte Naturwissenschaft zwar nicht „durchaus studirt“, aber aus den Büchern eines Moleschott und Louis Büchner in sich aufgenommen, wobei eine Art von krausestem Materialismus sich der Seele bemächtigte. Da kam man sich denn daheim doppelt unselig vor, und weil der Russe zum „Weltschmerze“ nicht disponirt ist, so übersprang man diese Stufe und kam zur Verzweiflung, welche, im Gegensatze zur Resignation des alten Nihilismus, den wesentlichen Inhalt des neuen Nihilismus bildet.

Das Unglück wollte, daß in dieser Zeit der Gährung die Polen sich erhoben und von einem Murawiew, dem feigsten Henker, zertreten wurden, daß die geheime Nationalregierung von Warschau der russischen Jugend als ein Ideal von Verschwörerorganisation erschien, daß endlich der Czar, mißtrauisch gemacht und durch schlechte Rathgeber irregeführt, auf der Bahn reformatorischen Wollens und Schaffens anhielt und nach dem Despotismus des Selbstherrscherthums sich zurücksehnte, der bekanntlich in Rußland „durch den Meuchelmord gemildert wird“.

Nun hatte der Nihilismus leichte Arbeit. Von Hause aus war er etwas Unbestimmtes, ein politisches und sociales Mißvergnügen, das Bedürfniß nach persönlicher Freiheit, der Haß gegen feiles Beamtenthum gewesen; jetzt empfing er einen bestimmten Inhalt, ein Programm. Die Dynastie wurde proscribirt, die Anarchie als Sehnsuchtsideal dem Despotismus gegenübergestellt, die Vernichtung des Staates zum Berufe der Gesellschaft erklärt. Kleine Verschwörergesellschaften bildeten sich, denen von überallher Proselyten zuströmten - die Gesellschaft „Semlja i Wolja“ (Land und Freiheit) stammt schon aus jenen Tagen - und die Reihe der Attentate auf Alexander den Zweiten begann mit demjenigen Karakasow’s, um nach Jahrzehnten mit der furchtbaren Dynamittragödie am Petersburger Katharinen-Canal zu enden.

Ein Dunkel schwebt bis zum heutigen Tage über den Organisationen der nihilistischen Propaganda. Wo hat sie ihren Sitz, wo ihre Häupter? Ist jenes sogenannte Executivcomité, ein vervollkommnetes Abbild der polnischen Nationalregierung des Jahres 1863, ein fester Kern, um den sich bestimmte Kategorien von Zugehörigen gruppiren? Giebt es Statuten? Und wie stark mag die Zahl der beständigen Verschwörertruppe sein, über welche das Excecutivcomité verfügt?

Ja, auf alle diese Fragen fehlt eine verbürgte Antwort. Eine Unzahl von Personen, des Nihilismus verdächtig und geständig, ist seit zehn Jahren von allerhand Gerichten, von Schwur- und Militärgerichten, verurtheilt und dann nach Sibirien gesendet oder gehenkt worden. Immer wieder glaubte man, in einzelnen Schuldigen die Häupter der unheimlichen Revolution ergriffen und unschädlich gemacht zu haben. Aber es war wie mit den Kopfen der Hydra; einen Kopf hatte man abgeschlagen, hundert Köpfe wuchsen nach. Und dabei tauchte bald da, bald dort, bald im Süden, bald im Norden des ungeheuren Reiches, bald in den Städten, bald auf dem Lande dieses Schreckenshaupt der Revolution auf.

Vor zehn Jahren etwa begann der Nihilismus, „Blut zu lecken“. Netschajew, ein Verschworener, erschlug einen Polizisten, der sich als Spion in eine nihilistische Versammlung geschlichen hatte. Netschajew entfloh in die Schweiz, ward ausgeliefert und ist seitdem verschwunden. Das war die Krise; denn bis dahin hatte der Nihilismus sich einer Blutthat noch nicht schuldig gemacht. Dann aber ging die schreckliche Erweiterung der Mittel mit reißender Schnelligkeit von statten. Es ist ein Unterschied zwischen dem Nihilismus vor und demjenigen seit Netschajew’s Auslieferung, wie zwischen einem theoretischen Revolutionär und einem Barricadenkämpfer, zwischen dem blasirten Studenten Bazarow, den Turgenjew in dem Roman „Väter und Söhne“, und dem verrückten Neschdanow, den er anderthalb Jahrzehnte darauf in dem Roman „Neuland“ als nihllistischen Typus construirte. Es blitzt ein Pistolenschuß in Petersburg; die Nihilistin Wjera Sassulitsch hat den Polizeimeister Trepow in seinem eigenen Bureau schwer verwundet. Eine Heldin meint der russische Geschworene in ihr zu erblicken; denn er hat noch nie eine Revolutionärin an der Arbeit gesehen; er spricht sie los, und sie flüchtet in die Schweiz. Dann knallt es in Charkow, der südlichen Universitätsstadt; der Gouverneur Krapotkin, der von einem Balle heimkehrte, liegt als blutiges Opfer am Boden. Der Türkenkrieg hat das Antlitz des Nihilismus entsetzlich gewandelt, ihn vom leidenschaftlichen Widerstande gegen den Despotismus zum blutigen Angriffe auf denselben getrieben.

Wie harmlos, fast ein Spiel mit äußeren Formen, ist der Nihilismus noch in den sechsziger Jahren gewesen! Man lese nur jene berühmte Verordnung des Generalgouverneur Ogarew von Nischnei-Nowgorod, in welcher amtlich zum ersten Male die Nihilistinnen eine Rolle spielen. Da heißt es: „Es ist von mir bemerkt worden, daß auf den Straßen Nischnei-Nowgorods zuweilen Mädchen und Frauen sichtbar sind, welche sich in einem eigenthümlichen, gewöhnlich den sogenannten Nihilistinnen zugeschriebenen Anzuge zeigen, der aus einem runden Hute, abgeschnittenem Haar, blauer Brille und einer Kapuze (Baschlyk) zusammengesetzt und wegen des Mangels der Crinoline auffällig ist.“ Diese Verordnung datirt aus dem Jahre 1867. Und zehn Jahre später, nach dem Orientkriege, welcher die Revolution ablenken sollte, sie aber in Wahrheit an Mord und Blut gewöhnte – welche grauerhafte Wandlung! Jene maskirten Frauenspersonen von Nischnei-Nowgorod sind zu Hyänen geworden, nach Zürich und Genf gegangen, um unter dem Vormunde medicinischer Studien das Revolutionshandwerk zu erlernen. Wjera Sassulitsch ist eine Stümperin im Vergleiche mit Sophie Perowski, der Mitschuldigen an dem Czarenmorde vom 13. März.

Wenn zuerst die Hand der Nihilisten sich blos wider verhaßte Beamte, wider einen Trepow und Krapotkin erhoben hatte, so vergreift sie sich gar bald an dem Czar selber. Solowiew schießt auf den Monarchen, der arglos durch die Anlagen des Winterpalastes wandelt, und da der Schuß gefehlt hat, verfolgt er sein Opfer auf den schneebedeckten Wegen wie ein Wild , bis zwei Kosaken herbeieilen und die entsetzliche Jagd durch die Ergreifung des Verfolgers beenden. Bald darauf wird die Eisenbahn zwischen Moskau und Kursk unterminirt, um den Train in die Luft zu sprengen, welcher den Czar von Livadia nach Moskau bringen soll. Im Winterpalast selbst explodirt direct unter dem Speisesaale eine Dynamitladung, und nur ein glücklicher Zufall rettet den Czar. Bleicher Schrecken erfüllt ganz Rußland. Bis wohin reicht der Arm des Nihilismus? Hat er seine Werkzeuge im Kaiserpalaste selbst? Und giebt es kein Mittel, ihn zu bändigen? Ein Dictator wird bestellt in der Person des Generals Loris-Melikow. Die Polizei schläft weder Tag noch Nacht. Aber es ist wie ein Geisterspuk, der sich nicht verscheuchen läßt. Auf Loris-Melikow selbst richtet sich der Revolver des Nihilisten Mlodetzky. Revolutionäre Proclamationen schießen aus dem Boden. Eine geheime Druckerei wird entdeckt; zehn andere setzen die Arbeit fort. Der Nihilismus ist hier, da und allerorten. Und am 13. März ereilt den Czar das Verhängniß; Dynamitbomben platzen unter seinem Wagen, während er aus der Michaels-Manége heimkehrt, und zerreißen seinen Leib.

Und wie viele von den Schuldigen man auch hängt, der Nihilismus bleibt unversehrt in seiner gespensterhaften Schreckhaftigkeit. Es hat den Anschein, als ob ganz Rußland von ihm überzogen wäre, von der Hütte des Muschiks bis hinauf zu den Gemächern der kaiserlichen Schlösser, von dem Hause des Popen bis zu den Casernen. Sophie Perowski, welche auf dem Smolensker Felde in Petersburg zum Galgen geführt wurde, ist eine Gräfin, die Tochter eines Senators und ehemaligen Ministers; Isajew, der ihr Schicksal theilt, ist der Sohn eines vordem leibeigenen Bauers, Mlodetzky der Sohn eines jüdischen Uhrmachers.

Es kommt aber im Grunde wenig darauf an, die Grenzen festzustellen, innerhalb deren der Nihilismus seine Kreise zieht. Der Widerwille der Gesellschaft gegen das politische Regiment ist die Quelle der nihilistischen Bewegung; die Corruption des Beamtenthums hat jede Autorität untergraben. Anfangs hatte auch der Nihilist noch Ideale; er sprach von Freiheit, von Verfassung, von Menschenrechten. Aber man corrigirte seine Sehnsucht durch die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 513. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_513.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)