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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Kritik auch im Bewußtsein Jesu den Gegensatz einer universellen Idee und einer nationalen, beschränkten Form, an welche diese Idee gebunden ist, entdeckt hat. Der religiöse Genius Jesu, kraft dessen er den kommenden Jahrtausenden neue Bahnen für ihre sittliche und religiöse Entwickelung erschlossen hat, erscheint im Gewande einer jüdisch-pharisäischen Zeitvorstellung, der Vorstellung eines erwarteten Messias. Dadurch liegen in dem religiösen Bewußtsein Jesu die Keime zu zwei grundverschiedenen, in ihrer weiteren Entwickelung immer mehr aus einander gehenden Anpassungen des Christenthums und damit der Kirche.

Die eine hält sich an die Person Jesu und seine messianische Würde; die Amtswürde Jesu ist ihr der letzte Grund für die Bedeutung der christlichen Religion. Die andere hält sich an die Religion Jesu und findet die Bedeutung seiner Person lediglich darin, daß sie Trägerin der religiösen Idee gewesen ist. Die eine Auffassung ist die der katholischen Kirche. Ihr ist Jesus kraft seines göttlichen, messianischen Amtes absolute Autorität, und es ist nur folgerichtig, wenn das jüdische Dogma vom Messias zum kirchlichen Dogma von der Gottheit Christi ausgebildet worden ist. Hier steht die Person über der Sache, und die Sache erhält erst Bedeutung durch die Person. Die andere ist die des consequent entwickelten Protestantismus, der hier dem kirchlichen Autoritätsglaube die letzte Wurzel abschneidet, indem er auch der Person Jesu gegenüber eine freie Stellung einnimmt und, statt auf die Worte Jesu als auf eine dogmatische Autorität zu schwören vielmehr das Wesen des Christenthums in dem Bewußtsein des geistigen Zusammenhangs mit dem sittlich-religiösen Princip, das Jesus vertreten hat, findet. Hier steht die Sache über der Person; weil Jesus eine große Sache vertreten hat, steht er selber groß da.

Der Protestant der Gegenwart nennt sich nicht mehr deshalb einen Christen, weil er eine bestimmte metaphysische Ansicht über die Person Jesu vertritt, auch nicht deshalb, weil er in dem Urheber der christlichen Religion eine unbedingte Autorität erblickt, der er sein eigenes Denken und Urtheilen gefangen geben müßte, sondern weil er in dem sittlich-religiösen Bewußtsein Jesu die Grundzüge seines eigenen Bewußtseins wiederfindet. Der Protestant kennt überhaupt keine sclavische Abhängigkeit des Geistes von irgend einer, wenn auch noch so hoch stehenden menschlichen Größe; er kennt nur – und das ist unendlich viel mehr – sittliche und geistige Gemeinschaft. Diese geistige Gemeinschaft aber findet keineswegs ihre Grenze an einer einzelnen historischen Persönlichkeit.

„So hoch immer Jesus,“ sagt Strauß in seinen Schlußbetrachtungen zum „Leben Jesu“, „unter denjenigen steht, welche der Menschheit das, was sie sein soll, reiner und deutlicher vorgebildet haben, so war er doch hierin weder der Erste noch der Letzte, sondern wie er in Israel und Hellas, am Ganges und Oxus Vorgänger gehabt hat, so ist er auch nicht ohne Nachfolger geblieben, vielmehr ist auch nach ihm jenes Vorbild noch weiter entwickelt, abseitiger ausgebildet, und sind seine verschiedenen Züge mehr ins Gleichgewicht gebracht worden.“

So hatte auch schon Zwingli erklärt, der göttliche Geist sei nicht auf Palästina beschränkt gewesen, auch Plato habe aus dem göttlichen Born getrunken, und Seneca sei ein heiliger Mann gewesen. Deshalb unterscheidet die neuere Theologie zwischen dem Princip der christlichen Religion und der Person Jesu. Daß der Werth des Menschen in seiner Gesinnung besteht und also das „Reich Gottes“ nicht mit äußerer Gebärde kommt, sondern inwendig im Menschen ist, daß in dem Sehnen, in dem Suchen nach Wahrheit und Gerechtigkeit für den Menschen schon die Seligkeit des Findens verborgen liegt, diese Grundsätze der christlichen Religion sind nicht zufällige, von außen kommende Geschichts-, sondern nothwendige Vernunfterkenntnisse, die jeder in sich selbst verbürgt finden kann. Sie werden weder richtiger noch unrichtiger, je nachdem die Forschungen über das Leben Jesu ausfallen.

Die neuere Theologie „sucht die Religion zu befreien von der Historie, ihr ewiges Wesen loszulösen von dem nur einmal Geschehenen;“ sie sucht, „das, was jetzt und immer im Wesen des menschlichen Geistes liegt, unabhängig zu machen von allen nur geschichtlichen Fragen“. Deshalb liegt ihr „die Bedeutung nicht in der Frage: woher nehmen religiöse Wahrheiten ihren Beweis für den Verstand? sondern bei der Frage: woher nehmen sie Kraft für das Herz und den Willen? auf welchem Wege geht eine Idee, die in die Geschichte eingetreten ist, über in Fleisch und Blut der nachfolgenden Geschlechter?“ -

Es leuchtet ein, daß der moderne Protestantismus erst mit dieser Position wirklich den Ehrennamen des freien Protestantismus verdient. Aber in dieser Stellung ist nun der Protestantismus auch wirklich frei, ja die Freiheit ist das unveräußerliche Gut der protestantischen Kirche, sofern sie wirklich ihren Namen verdient. Weil sie eine geistige Gemeinschaft sein will, bedarf sie keiner Einförmigkeit der Meinungen, keiner Uebereinstimmung im Buchstaben eines theologisch fixirten Glaubensbekenntnis; sie hat vielmehr den ganzen Reichthum individuell ausgebildeter Persönlichkeiten zu ihrer Voraussetzung. Deshalb kann und muß die protestantische Kirche zu allen ihren Gliedern sagen. „Denkt über die Probleme der Religion, wie ihr als gewissenhafte Menschen nach dem Grade eurer Einsicht und nach dem Stande eurer Bildung zu denken vermögt! Aber bleibt dabei eingedenk, daß über der Verschiedenheit der religiösen Ueberzeugungen das Ewig-Menschliche, das Göttliche steht, das euch unter einander und mit den Geistern der Vergangenheit verbindet!“

Diese Kirche des freien Protestantismus sieht in jedem Versuche, menschlichen Meinungen den Stempel unfehlbarer Wahrheiten aufzudrücken, ein unfrommes, die geistige Gemeinschaft zerreißendes Beginnen. Sie erwägt die Freiheit des Denkens nicht nur, wie man ein notwendiges Uebel erträgt, sondern sie fordert dieselbe als wesentlichste Bedingung reiner Religiosität. Sie ist recht eigentlich die eifersüchtige Hüterin aller geistigen Freiheit, indem sie unaufhörlich in das Gewissen ihrer Glieder hineinruft: „Werdet nicht der Menschen Knechte!“

Wie sollte diese Kirche dazu kommen, von der Wissenschaft Umkehr zu verlangen oder nur zu irgend einer Errungenschaft der Wissenschaft scheel zu sehen? Wird auch durch die fortschreitende Welterkenntniß die alte Weltanschauung mit ihrem Himmel über der Erde und ihrer Hölle unter derselben zerstört und fällt damit zugleich auch die Erwartung eines ewigen Lohnes im Jenseits oder das grenzenlose Bangen vor der ewigen Höllenpein – der Protestant sieht Beides ohne Wehmuth dahinfallen. Die Wissenschaft hat ja nur gethan, was der Protestantismus ebenfalls zu thun sucht: sie hat ein paar Ketten zerrissen, mit denen die Menschheit Jahrhunderte lang an das Joch der Hierarchie gefesselt gewesen, und hat die Grundlage für eine reinere, weil freiere Sittlichkeit geschaffen. Hat die Wissenschaft festgestellt, daß die Weltgesetze unverbrüchliche Geltung haben, daß es keinerlei Dispensationen von denselben giebt, und daß keine wunderthätige Hand in dieselben eingreift, warum soll der Protestant diese Einsicht nicht freudig begrüßen, die im Stande ist, seinem Geiste festeren Halt im Weltleben zu geben? Die protestantische Kirche ist ja nicht auf Zeichen und Wunder gebaut, sondern auf die ewig sich gleichbleibende Kräfte des menschlichen Gemüths. Die Wissenschaft mag den Zusammenhang zwischen dem bewußten Leben des Geistes und den Organen des Körpers immer genauer erforschen und damit neue Begriffe über das Wesen des Geistes zu Tage fördern. Sobald diese Begriffe den Forderungen der Wissenschaft und den Thatsache der Erfahrung entsprechen, hat der Protestant keinen Grund, gegen dieselben Einsprache zu erheben; denn die protestantische Kirche ist nicht auf einen bestimmten Begriff des Geistes gegründet, sondern auf die Kraft des Geistes, Wahrheit zu erkenne, Ordnung in das Chaos des Menschenlebens zu bringen und alles unbewußte Leben den Interessen des geistige Lebens dienstbar zu machen.

Was hat in dieser protestantischen Kirche eine Hierarchie zu suchen, dieser traurigste, mit den geistigen Fortschritten des Menschengeschlechts in beständigem Kampfe liegende Ueberrest der mittelalterlichen Autoritätskirche! Hier hat keine Kirchenbehörde, keine Synode das Recht, dem Einzelnen vorzuschreiben, was er glauben, wie er denken und empfinden soll. Auch der sogenannte geistliche Stand hat den letzten Rest übernatürlichen Amtsansehens verloren, das nur zu oft einen Deckmantel der Charakterlosigkeit und einen Freibrief für Unwissenheit und Fanatismus abgegeben hat. Der Prediger gilt so viel, wie seine Persönlichkeit und sein Charakter werth ist, nicht mehr und nicht weniger. Er ist Beamter der Gemeinde, und als solcher ist er nur der Gemeinde willen da, nicht aber die Gemeinde um seinetwillen. Er trat nicht mit dem Anspruche auf, im Besitze besonderer göttlicher Geheimnisse zu sein. Er ruht nicht aus auf den bequemen Polstern des kirchlichen Bekenntnisses und des Katechismus, sondern ist unermüdlich beschäftigt,

seine eigenen religiöse Begriffe zu reinigen, neue Ansichten zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_400.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)