Seite:Die Gartenlaube (1881) 312.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

unter dem preußischen Ministerium Wöllner in Conflict gebracht hatte. Die erste Abhandlung „Vom radicalen Bösen“ erhielt die Genehmigung der preußischen Censur, aber schon die zweite „Vom Kampf des guten Princips mit dem bösen“ wurde beanstandet. Doch wußte sich Kant zu helfen. Er ließ das ganze Buch von der Königsberger theologischen Facultät censiren, und so konnte es gedruckt werden. Seine zelotischen Gegner, aber beeilten sich eine königliche Cabinetsordre (1. October 1794) zu erwirken, nach welcher ihm „Entstellung und Herabwürdigung der Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christenthums“ vorgeworfen wurde. Kant meinte: „Widerruf und Verleugnung seiner Ueberzeugung wäre niederträchtig, aber Schweigen in dem vorliegenden Falle Unterthanenpflicht; Alles, was man sage, müsse wahr sein, aber man brauche nicht alles Wahre öffentlich zu sagen.“ Er erklärte, daß er sich fortan „aller öffentlichen Vorträge über Religion auf dem Katheder und in Schriften enthalten werde“ – das alte Lied von der Vergewaltigung der philosophischen Forschung durch den offiziellen Glauben, so alt wie die Weltgeschichte selbst.

Es ist ein merkwürdiges Buch, diese „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Hell, scharf und klar wie die frühe Wintersonne, aber auch wie diese kalt und nüchtern. Hier ist alles philosophisch-theologische Halbdunkel, das in der Hegel’schen und Schleiermacher’schen Religionsphilosophie noch eine große Rolle spielt, hier sind alle jene webenden Mysterien, die wir nun einmal von einem „Glauben“ schwer trennen können, bis auf wenige Spuren verbannt. Hier muß sich Alles auf seinen „sittlichen“ Gehalt hin legitimiren, um religiösen Werth zu beanspruchen. „Religion ist Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote.“ Das klingt wie eines jener scharf formalirten Decrete des Tugendfanatikers Maximilian Robespierre’s, der um dieselbe Zeit der Mystik des irdischen Königthums mit dem bunten Gefolge seiner adligen und kirchlichen Würdenträger in Frankreich ein Ende machte. Im Grunde war es der alte Rationalismus, der, durch das Glühfeuer Kantischer Ethik geläutert, hier eine Wiederauferstehung feierte, wie z. B. seine Auffassung der Natur Christi als der Personalification der Idee des „vollkommenen Menschen“ beweist. Das Kantische Werk wird seinen dauernden Werth behalten, da hier die wichtigsten religiösen Probleme auf einer Linie sich bewegen, die in der religiösen Entwickelung der Menschheit zukünftig die richtunggebende sein wird.

Eine ethische Weltanschauung, deren Princip ein Freiheitsbegriff von so unausdenkbarer Hoheit ist, muß diesen ihren großen Charakter auch in ihren Lehren vom Rechts- und Staatsleben bewähren. So entwickelte Kant in der „Metaphysik der Sitten“ eine Rechtsphilosophie, die sich auf den Begriff der Menschenwürde und des unveräußerlichen Menschenrechts stützt und deren Aufgabe darin besteht, die sittliche Freiheit zur Grundlage alles staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zu machen. Nach Kant besteht das Princip des Rechts darin, die Freiheit eines Jeden auf die Bedingungen einzuschränken, unter denen sie mit der Freiheit eines jeden Anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammenbestehen kann. Als das höchste Ziel aller staatlichen Entwickelung der Menschheit gilt ihm, wie er in der Abhandlung: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) entwickelt, ein internationales Rechtsverhältniß der Staaten, durch welches ausschließlich die gemeinsamen positiven und Culturzwecke des Menschengeschlechts befördert würden. Dieses höchste Ideal gesellschaftlicher Entwickelung, dem ein bekannter deutscher Stratege der Gegenwart nicht einmal den Werth eines „schönen Traumes“ zugestehen möchte, hat Kant in seiner Schrift: „Zum ewigen Frieden“ mit einer bei unseren Philosophen so seltenen Wärme dargelegt, die ihn hierin, wie in manchen staatsphilosophischen Fragen, als einen enthusiastischen Anhänger Jean Jacques Rousseau’s erscheinen läßt. Mit großem Interesse verfolgte Kant die praktische Rechts- und Staatsentwickelung seiner Zeit, und den revolutionären Stürmen jenseits des Rheins schenkte er die gespannteste Aufmerksamkeit. Ob er wohl hier die blutige, praktische Bethätigung seines kategorischen Imperativs ahnte?

Man hat der sittlichen Weltanschauung Kant’s – und gewiß nicht mit Unrecht – eine gewisse herbe Rigorosität vorgeworfen, und selbst ein so überzeugter Anhänger desselben wie Schiller hat Kant’s strenge Abweisung aller wärmeren Gefühlsmomente aus dem Gebiete des Sittlichen durch jene bekannten Distichen persiflirt:

„Gerne dien’ ich den Freunden, doch thu’ ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
Da ist kein anderer Rath’: Du mußt suchen, sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht Dir gebeut.“

Allein diese eiserne Unerbittlichkeit seines ethischen Princips war ja nur durch den Gegensatz der sittlichen Ideen zur Welt der Erscheinungen hervorgerufen. Kant war bestrebt, in seiner philosophischen Weltanschanung harmonische Einheit herzutellen, und er glaubte das Mittel dazu in einer Art der Naturbetrachtung zu finden, welche Natur und Idee, Causalität und Freiheit, Denken und Wollen unter einen höhern gemeinsamen Gesichtspunkt, die Zweckbetrachtung der Welt (Teleologie), bringt. Diese sollte die Versöhnung der Gegensätze in seiner Philosophie herbeiführen. Doch möchte er, indem er das teleologische Princip adoptirt, jeden Versuch abweisen, die Entstehung der natürlichen Dinge, der einzelnen Individuen wie der Gattungen, etwa aus der alleinigen Wirksamkeit eines zweckthätigen Gedankens, einer bewußten, nach einem bestimmten Plane handelnden Intelligenz zu erklären. Andererseits ist er aber auch weit entfernt, die rein ursächliche Erklärung und Betrachtung des Lebens der Natur für die einzige und höchste anzusehen. Die vollkommenste Ausgleichung dieses klaffenden Weltgegensatzes liegt für Kant im Gebiete des Aesthetischen. Die Lehre von der Schönheit war damals in Deutschland noch sehr jung. Um die Mitte des Jahrhunderts von dem Leibnizianer Alexander Baumgarten als besondere philosophische Disziplin begründet, war sie in der ersten Zeit wenig mehr als eine „Lehre von den schönen Künsten“, deren „Regeln“ von Gottsched, Sulzer und Anderen festgestellt wurden.

Erst als die Prüfung der ästhetischen Begriffe durch Anregung englischer Denker auch in Deutschland, insbesondere von Mendelssohn, Garve und Lessing, in Angriff genommen wurde, konnte man von einem wirklichen Fortschritt der jungen Wissenschaft sprechen. Kant hingegen erhob sie zur metaphysischen Höhe, indem er ihr die Rolle einer Versöhnerin seiner Erkenntnißtheorie und seiner Ethik übertrug. Dieses geschah in der „Kritik der Urtheilskraft“, einem Werke, dessen tiefsinniger Inhalt bisher viel zu wenig gewürdigt worden ist, wohl meist, weil die systematische Form eine eigentliche Popularisirung derselben verhinderte. Selbst Schiller’s ästhetische Aufsätze, die ganz in der Kant’schen Anschauung wurzeln, haben jenem Werke, das durch die Einwirkung eben auf Schiller, Wilhelm von Humboldt und Andere von bedeutendem Einfluß auf die nationalliterarische Entwickelung Deutschlands geworden ist, nicht eine größere Leserzahl zugeführt. Aber indem das Schöne als das Symbol des sittlich Guten hier aufgefaßt wurde, war damit die Brücke geschlagen zu jener altgriechischen Anschauung von der Einheit des Guten und Schönen: ein Princip, das für den Geist unserer classischen Literaturepoche bestimmend geworden ist.

Es liegt eine eigenthümliche Ironie darin, daß Kant, der das „Genie“, das heißt die unberechenbare, keinem theoretischen Gesetze unterthane Kraft, aus dem Bereiche des Denkens verweisen wollte, in diesem Werke durch den Begriff des „Genies“, das heißt eines Geistes, der „wie die Natur handelt“, also naiv und unbewußt das Höchste schafft, die Gipfelung und Krönung seines ganzen philosophischen Gebäudes vollzieht. Diese von Kant angeregte und von Anderen vollzogene Verschmelzung des philosophischen und ästhetischen Lebens hat später, am Ausgange des achtzehnten und zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, die deutsche Geistesentwickelung zu einer so idealen Höhe erhoben, daß jene Epoche zu den glänzendsten in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gehört.

Aber auch auf die eigentliche Philosophie und die positiven Wissenschaften unseres Jahrhunderts war Kant’s Einfluß außerordentlich groß. Nicht nur knüpften sich an seinen „Kriticismus“ einige Schulen an, welche (wie Reinhold, Fries, Bouterwek, Krug und Andere) eine Fortbildung der von ihm gepflanzten Keime anstrebten, sondern auch alle größern selbstständigern Systeme fußen auf Kant’scher Grundlage. Mögen sie nun, wie Fichte, über den transcendentalen Idealismus noch hinausgehen und das „Ich“ zum schöpferischen Princip der Welt machen oder, wie Schelling und Hegel, auf den Pantheismus Giordano Bruno’s und Spinoza’s sich stützen, mögen sie, wie Herbart, Lotze und Andere, Leibniz’sche Elemente wieder aufnehmen oder, wie Schleiermacher, eine Combination Plato’s, Spinoza’s und des Christentums versuchen oder endlich, wie der geistreiche Erneuerer des modernen Pessimismus, Schopenhauer, Anknüpfungspunkte an indischen Buddhismus finden: alle diese Denker nehmen von Kant ihren eigentlichen Ausgang.

In neuester Zeit hat sich in Deutschland, zum Theil im

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_312.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)