Seite:Die Gartenlaube (1880) 845.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

No. 52.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Unter dem Dache.
Eine Weihnachtsgeschichte.


Die Martergasse führte gerade auf die Stadtmauer zu. Sie war eng, wie die ältesten Straßen alter Städte fast ausnahmslos, und die oberen Stockwerke der schmalen Häuser kamen einander immer näher, als ob sie hinüber sagen wollten: Ich halte dich, Nachbar, wenn du den Schwindel des Alters bekommen und fallen solltest. Verräuchert und verstaubt waren alle diese Häuser bis an das Ende der Straße, wo das Mauergäßchen sich wie der Querbalken eines Kreuzes vor dieselbe legte.

Das Eckhaus links war ein ehemaliges Nonnenkloster, und es sah am allerschwärzesten aus, denn in der Nähe befand sich eine Bäckerei, deren dunkler Schornsteinqualm sich bei dem vorherrschenden Ostwind seit vielen Jahren auf den längst von den Nonnen geräumten Bau niederließ. „Die schwarze Ecke“ nannte man das Grundstück in der ganzen Martergasse, der es übrigens den Namen gegeben hatte; denn über dem Parterre war die Ecke abgeschrägt, und da war im sechszehnten Jahrhundert von einem Bildhauer ein Crucifixus in roher Sandsteinarbeit eingesetzt worden, den nun die Zeit zu häßlicher Unform zernagt hatte.

In der schwarzen Ecke wohnten kleine Leute; die Billigkeit des Miethzinses war das Einzige, was ein Menschenkind verlocken konnte, in dieser weltverlorenen Gegend zu wohnen, durch diese dicke, verwitterte Eingangsthür in die ägyptische Finsterniß eines feuchtkühlen, backsteingepflasterten Hausflurs zu treten, diese lebensgefährliche, ausgetretene Treppe aufwärts zu steigen, welche sich wie ein dünner Wurm unter das Dach wand. Auch die Treppe bewahrte eine Erinnerung an die Klosterzeit: das Lichtloch, welches sie in der Gegend des ersten Stockwerks zu erleuchten sich mühte, warf seinen Schein auf ein stark nachgedunkeltes Oelbild, einen Kopf des sterbenden Christus von so abschreckender Häßlichkeit, daß mehr als ein Besucher des Hauses hier, wo das Bild wie eine Vision im Treppendunkel auftauchte, entsetzt zurückgefahren war und Mühe gehabt hatte, einen Sturz zu vermeiden.

Unter dem Dache der schwarzen Ecke gab es vier bewohnbare Räume, in denen sich vier Parteien niedergelassen hatten: eine Näherin, ein alter Flickschneider, ein todtkranker Schriftsetzer im letzten Stadium der Schwindsucht, und die blutarme, mit vier Kindern gesegnete Wittwe eines Maurergesellen, welcher vor ein paar Jahren durch den Sturz von einem Gerüst um’s Leben gekommen war. Die Letztere ernährte sich kümmerlich durch das Sammeln von Abfällen auf den Straßen und in den Häusern, und die Kinder halfen ihr, soweit die Armenschule ihre Zeit nicht in Anspruch nahm.

Die Kinder waren das belebende Element unter dem Dache der schwarzen Ecke. Aber im Augenblick war nichts zu hören von ihrem frohen Lachen und Geplauder; sie streiften in den winterlichen Straßen der Stadt umher, zwischen den Buden des Weihnachtsmarktes, vor den großen Spiegelscheiben der Dorotheenstraße, im Gewühl der hastig durch einander fahrenden Menschen, welche im letzten Augenblick noch bestrebt waren, die Lücken ihrer Weihnachtseinkäufe zu ergänzen. Sie wollten Weihnachtsglanz, Weihnachtsschönheit sehen, und seit der eine im Gedränge des vorjährigen Heiligabends ein verlorenes Weihnachtsschaf gefunden, beglückte sie die stille Hoffnung, der Himmel könne dies Jahr eine ähnliche unvermuthete Bescherung für sie geplant haben.

Es war Weihnachten, auch für die schwarze Ecke und deren Dachquartiere, obschon nichts dahinauf drang von dem flammenden Leben der Stadt, von der Weihnachtsschönheit und dem Weihnachtsjubel, nicht einmal gedämpfte Laute aus der Nachbarschaft; denn es war bitter kalt draußen, und es war rathsam, die Fenster so fest wie möglich verschlossen zu halten. Aber die Leute droben empfanden in ihrer Weise die Thatsache des Festes. Der kranke Schriftsetzer war am besten dran; er lag im Bette, im Dunkeln; er konnte ganz ungestört durch das Fester in den sternklaren Winterhimmel, den Weihnachtsbaum der Armuth, sehen und konnte träumen. Er träumte von einer Stube voll Lichtglanz und springender Kinder und von einer Frau, die seine Frau war. Ja, so sollte es werden, wenn er erst gesund sein würde. Und er wurde gewiß gesund; es war ihm gerade heute so leicht in der Brust. Die Wittwe saß am Ofen und wartete der Kinder; sie hatte einen Kaffee gekocht, und auf dem Tische lagen Kuchenstückchen, Aepfel und Nüsse, sowie einige Paar neue Strümpfe. Der Flickschneider kauerte auf der Erde, gleichfalls in der nächsten Nähe seines Oefchens. Er hatte die Beine auf gut türkisch gekreuzt und pfiff vergnügt die Melodie:

“O du fröhliche,
O du selige,
Segenbringende Weihnachtszeit.“

Er war, obwohl er offenbar emsig zu arbeiten hatte, zufrieden mit dem Weihnachtsfest; in der That, er war stolz; denn er hatte einen ganzen Rock fertig zu stellen, der am morgenden Festtag Kirchenparade machen sollte. Das war doch einmal etwas anderes, als das ewige Nähtebessern, Stopfen und Flickenaufsetzen: eine rechtschaffene Meisterarbeit, und die Nadel flog nur so auf und nieder.

In dem Stübchen der Näherin war es am behaglichsten. Natürlich: Sie hatte ebenso dringend zu thun, wie der Schneider, oder vielmehr noch dringender; ein Kleid mußte in der halben

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 845. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_845.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2021)