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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Küstenbewohner, namentlich Nordfrieslands und der Elbmarschen, lebt, da diese ganz besonders litten. Es war eine Vollmondspringfluth mit schwerem Sturm, und seit einem Jahrhundert war keine Fluth von solcher Höhe hereingebrochen. Aber trotzdem nahmen die Verluste nicht die Ausdehnung an, wie in dem vorhergehenden Jahrhundert; denn seitdem waren die Deiche doppelt so hoch und stark geworden, sodaß nun auch die Fluthen von 1845, 1850 und 1855 nicht mehr Zerstörungen von größeren Dimensionen anzurichten vermochten.

Dem Geschilderten brauchen wir kein Wort hinzuzufügen – diese furchtbare Chronik liest sich wie ein Bericht von den Schlachtfeldern eines endlosen, blutigen Krieges, und wenn wir staunend den Blick von diesem titanenhaften Ringen der Menschen mit dem Ocean abwenden, liegt es nahe, daß wir ihn besorgt auf die Zukunft richten, und die Frage tritt an uns heran: Sehen unsere Marschen nochmals solchen Katastrophen wie den geschilderten entgegen? Die Antwort hierauf kann nur eine relative sein.

Insofern die Deiche in ihrem gegenwärtigen gewaltigen Bau, und die nächste Zukunft, die nächsten Jahrhunderte in Frage kommen, kann man, soweit menschliche Erfahrung reicht, von einer ziemlich absoluten Sicherheit sprechen; eine Gefahr könnte wohl nur dann entstehen, wenn zwei ganz ungewöhnlich furchtbare Fluthen einander unmittelbar folgten, sodaß Alles, was die erste zerstört hatte, beim Andringen der zweiten noch nicht wieder hergestellt war.

Anders gestaltet sich die Lage, wenn wir über die nächsten Jahrhunderte weg in die Zukunft blicken. Der Inselkranz vor unseren Küsten unterliegt einer fortwährenden Zerstörung; gemessen mit dem Umfange, den sie in sicheren Jahrhunderten hatten, haben einzelne Inseln über die Hälfte ihrer Ausdehnung eingebüßt und in unserer, der neuesten Zeit ist z. B. Wangerooge zum verlorenen Posten geworden, den die Bewohner räumen mußten. Hand in Hand mit den Zerstörungen durch die Fluthen geht nun eine Senkung des ganzen Küstenstriches von Jahrhundert zu Jahrhundert, und wird diese nicht durch eine Hebung abgelöst, so sind die sämmtlichen Inseln ihrem Schicksal verfallen. Sind aber erst diese Wellenbrecher im Meere versunken, so ist das Vorland das nächste Angriffsobject der Fluthwellen, und ist dieses zerspült und zerstört, dann hat wohl die Stunde neuer Kämpfe für unsere Marschen geschlagen.[1]




Streitende Theologen.
(Mit Abbildung, S. 833.)


„Und leider auch Theologie“ – läßt Goethe den Doctor Faust die Aufzählung seiner Studien schließen. Eine Zeitlang schien es, als habe die faustische Abneigung Goethe’s gegen die Mysterien der Dogmatik sich auch unserer akademische Jugend bemächtigt. Die theologischen Hörsäle wurden leerer und leerer; die Consistorien klagten über die Spärlichkeit des geistlichen Nachwuchses; Patrone und Gemeinden boten Pfarrstellen, namentlich schlecht dotirte, wie Waare aus, die keinen Käufer findet.

Ein unerwartet schneller Umschwung der Dinge hat gegenwärtig das frühere Verhältnis nahezu wieder hergestellt und den theologischen Docenten neue Zuhörer, den Heerden neue Hirten gebracht. Nach wie vor prangt in den Verzeichnissen der Vorlesungen, die an deutschen Universitäten gehalten werden, an erster Stelle die Theologia sacra, zum Zeichen, daß ihre Vertreter den Lehrern anderer Wissenschaften zum mindesten ebenbürtig erachtet werden. Nach wie vor nehmen die Geistlichen in der Gesellschaft eine in mehr als einer Beziehung hervorragende Stellung ein. Nach wie vor üben diejenigen unter ihnen, denen die Nähe der Fürstenhöfe Rang und Pfründe verleiht, einen unberechenbaren Einfluß, welcher, wie Kundige behaupten, über die Leitung kirchlicher Angelegenheiten hinaus, in die hohe und niedere Politik nicht erfolglos eingreift.

Wie mag es nun zugehen, daß trotzdem ein beträchtlicher Theil der Gebildeten, und zwar auch solcher, die für ihre Person und ihre Familie mit den kirchlichen Traditionen nicht gebrochen haben, den ehrwürdigen Gestalten im schwarzen Rocke und weißer Binde gern aus dem Wege geht, mit Vorliebe an ihnen seinen Witz übt, über ihre Leistungen geringschätzige Urtheile fällt, sie für allerlei Unheil in irdischen und himmlischen Dingen im Ernst und Scherz verantwortlich macht? Der ganze Stand als solcher ist ohne Zweifel so ehrenwerth wie irgend einer. Aber eine Eigenschaft haftet in der That vielen, um nicht zu sagen den meisten Theologen an, die wohl im Stande ist, sie auch bei vorurtheilsfreien Leuten mißliebig zu machen, eine Eigenschaft, die ihnen nachläuft, wie der Schatten dem Lichte. Das ist, um es kurz auszusprechen, ihre Rechthaberei, ihre Streitsucht.

Streitende Theologen – wer hätte sie noch nicht gesehen auf Synoden und Kirchentagen, bei Festen und Mahlzeiten, in Wartezimmern und Eisenbahncoupés? Wer hätte nicht schon ihren Schlachtruf erschallen hören in kirchlichen und politischen Zeitungen? Wer wüßte nicht, daß gerade gegenwärtig um vielumworbene Kanzeln der Hauptstadt des deutschen Reiches ein hitziger Kampf entbrannt ist, in welchem das „Hie orthodox!“ „Hie liberal!“ von rechts und links sinnverwirrend durch einander klingt? „Streitende Theologen“ hat auch der Maler des vortrefflichen Bildes, an welches unsere Bemerkungen sich anlehnen, den Beschauern der „Gartenlaube“ vorgeführt. Das ist einmal ein Bild, aus der Mitte des Lebens herausgegriffen, ungekünstelt und doch von der Kunst geboren.

Ja, seht sie euch einmal genau an, diese Köpfe, diese Figuren, dieses Mienenspiel, diese Gruppirung! Unter dem Vorsitze des Herrn Superintendenten tagt in einfacher Amtstube eine geistliche Conferenz. Aus Stadt und Land sind die „lieben Brüder“ erschienen; die Bewillkommnungen durch Händedruck und kräftigen Kuß sind gewechselt, die Grüße der daheim rüstig schaltenden Pfarrfrauen ausgetauscht, die Formalien erledigt worden. Ein wissenschaftlicher Gegenstand ist auf die Tagesordnung gesetzt; das einleitende Referat erstattet worden; die zusammenfassenden Thesen vorgelesen worden; die Debatte ist in vollem Gange. Vor allen Dingen fesseln uns die beiden Hauptgestalten der Versammlung. Halb von seinem Sitze erhoben, halb über den Tisch gebeugt, das Haupt eifrig vorgestreckt, trägt soeben ein in vorgerückten Jahren stehender Herr seine Meinung vor. Sein Auge leuchtet in stechendem Glanze; seine Züge sind gespannt; sein Kinn verräth Enegie, sein Mund schneidige Beredsamkeit. Die Linke hält das Taschentuch, den perlenden Schweiß der Erregung von der Stirn zu trocknen. Ueberaus charakteristisch ist die Geberde der rechten Hand. Beinahe rechtwinkelig gebogen ruht sie auf einem angeschlagenen Folianten; der Zeigefinger ist fest und sicher auf einen Punkt gestemmt. „Hier steht’s geschrieben; hier steht’s schwarz auf weiß; wer will das Wort anfechten, wer die Buchstaben leugnen? Hier stehts, und dabei bleibt’s!“ Ob dem Redner sein großes Vorbild, der Doctor Luther, vorschwebt, wie er auf der berühmten Zusammenkunft in Marburg, wo man über die Bedeutung der Abendmahlsfeier verhandelte, mit Kreide auf den Tisch schrieb: „Das ist mein Leib“, und allen Einwürfen und Bedenken Zwingli’s zum Trotz immer wieder auf die Kreidebuchstaben hinwies: „das ist, das ist“? Ob das Gedächtniß des großen Reformators der entarteten Kirche, dem der Wortlaut der Bibel über Alles ging und der in hartnäckigem Eigensinn die von dem nachgiebigeren Schweizer gebotene Bruderhand ausschlug, ihn in seinem Entschlusse bestärkt, von dem Buchstaben der heiligen Schrift auch nicht ein Jota abmarkten zu lassen? Ein Zwingli nun zwar scheint der Gegner des lutherischen Heißsporns nicht zu sein: dazu ist sein Kopf zu fest, seine Haltung zu überlegen. Man sieht es dem hochwürdigen Herrn an, daß er sich nicht einschüchtern läßt, daß er den Ausführungen des „geliebten Bruders und geehrten Vorredners“ seinen Zweifel und Widerspruch entgegensetzt. Mit Bedeutung erhebt er die wohlgepflegten Hände; mit salbungsvoller Rede und feiner Ironie sucht er seinen Widerpart zu widerlegen. Fanatismus ist es nicht, was auf seiner Stirn thront und von seinen Lippen fließt, sondern es ist die milde Ruhe und vornehme Abwehr eines wohlunterrichteten Mannes. Vielleicht, daß die weltliche Bildung der Zeit auch an seinem Geiste nicht spurlos vorübergegangen ist, daß er der Gedankenentwickelung eines Schleiermacher – versteht sich, mit allen Vorbehalten des rechten unverfälschten Glaubens – nicht ungern folgt, daß er sich, mehr im Stillen als ausgesprochenermaßen, zu den von Halle und Berlin aus geleiteten Vermittelungstheologen zählt. Wer wird Recht behalten im Streit? Wird die Milde über die Strenge, die Vermittelung über die Consequenz den Sieg davontragen?

Blicken wir uns doch in der übrigen hochwürdigen Gesellschaft ein wenig um, damit wir womöglich die Stimmung der Majorität erfahren, die ja auch unter den Gläubigen nicht unterschätzt zu werden pflegt! Der Herr zur Linken des Superintendenten sieht nicht so aus, als werde er sich im nächsten Augenblick in den Streit seiner Nachbarn mischen. Nachdenklich sitzt er da, die Arme gekreuzt, schweigend den Verhandlungen folgend; seine ernsten Mienen sind nur von einem flüchtigen skeptischen Lächeln erhellt. Er weiß, daß Glaubensfragen nicht durch Pastoren-Conferenzen entschieden werden; sein Arbeitsfeld ist mehr die stille Studirstube mit ihrem Augustinus und Neander als der Markt der Parteien. Die weiße Halsbinde liebt er für seine Person nicht; ein schwarzes Halstuch umschließt den etwas altmodischen Kragen, und so erscheint er schwärzer als die übrigen Herren, unter denen er sicher nicht der schwärzeste ist. – Sei uns gegrüßt, du freundlicher Greis an seiner Seite, du mit dem schneeweißen Haar, auf welchem das Sammetkäppchen da thront, wo einst vor vielen, vielen Semestern dem flotten Burschen das Cereviskäppchen saß! Wohl bekomme dir das Prischen, das du eben aus der silbernen Jubiläumsdose zur Nase führst, während du deinem Nachbar eine Bemerkung zuflüsterst, die ohne Zweifel den Sinn hat, daß „zu deiner Zeit“ der würdige Wegscheider oder der gelehrte Gesenius die fragliche Bibelstelle ganz anders ausgelegt haben, als dieses neumodische Geschlecht sie versteht. Wem zauberte dein Anblick ein Bild ländlicher Idylle nicht vor die Seele, das hundertjährige Pfarrhaus mit ragendem Giebel, von wilden Weinreben umsponnen, den Wirthschaftshof mit watschelnden Gänsen und gackernden Hühnern, den stattlichen Gemüsegarten mit traulicher Geisblattlaube und lockenden Aepfeln? Alterchen, „deine Zeit“ ist bald dahin; hinter deinem Pfarrgarten pfeift die zudringliche Eisenbahn vorbei; in deine Gemeinde bricht mit Macht der Strom der neuen Bildung ein, und nur noch in den Erzählungen der Großmütter und den Dichtungen der Poeten wandelt bald deine ehrwürdige Gestalt.

„Seid ihr bald fertig mit dem Disputiren?“ So fragt innerlich, ohne daß eines Confraters Ohr etwas von der Frage erlauschte, der behäbige

  1. Ueber die zum Schutz unserer Nordsee-Inseln bekanntlich regierungsseits vorgenommenen Maßregeln werden wir bald einen Aufsatz aus der Feder eines Fachmannes bringen.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_842.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)