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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


gegen Diebe und Diebstahl. Dennoch arbeiteten in der Saline nur Sträflinge. Frau Taskin, die Gemahlin des Beamten, erzählte, daß sie nur Sträflinge und zwar nur solche, die sehr schwere Verbrechen begangen hatten, halten dürfe. Das Zimmer, welches unsere Künstlerfamilie bewohnte, ließ sich weder verschließen noch verriegeln. Nebenan schlief eine Magd, die ihren Herrn ermordet, und im Hause diente als Kindeswärterin eine Person, die ihre Herrin vergiftet hatte, und doch erklärte Frau Taskin, daß sie sich niemals treuere und bessere Dienstboten wünsche, als diese Sträflinge.

In Kiachta, an der chinesischen Grenze, wurde für die Fremdlinge ein chinesisches Festdiner veranstaltet. Chinesische Tafelschlachten sind bis zum Ueberdruß beschrieben worden, aber Frau Atkinson ist die erste, die uns belehrt hat, nach welcher Methode die chinesischen Köche ihre Treffen ordnen. Der große Gedanke eines chinesischen Diners besteht nämlich in der systematischen Folge der Gerichte. Zuerst erscheint alles Fleisch gesotten; nach diesem Gang kommen dieselben Fleischarten gedünstet, dann in dritter Reihe gebraten, und zuletzt erscheinen sie in Gestalt von Saucen oder Suppen. Jeder Gang besteht aus einem Dutzend Schüsseln, was uns nicht auffallen darf, weil die chinesische Küche sehr reich an Fleischsorten ist, da auch junges oder altes Katzen- und Hundefleisch nicht verschmäht wird.

Der Thee, welcher nach Tisch gereicht wurde, wollte der Verfasserin nicht munden; er war ihr weniger schmackhaft als in russischen Häusern. Die Ursache liegt darin, daß die Chinesen den Thee in Kesseln kochen lassen, wodurch natürlich ein Ueberschuß von Gerbsäure ausgezogen wird. Merkwürdig, daß man in dem Theelande keinen Thee zu bereiten versteht! Unsere sachverständige Hausfrau erzählt uns, daß die Russen, wenn sie Thee bereiten, ihn mit siedendem Wasser brühen, die Kanne schwenken und den ersten Aufguß wegschütten. Da die Russen als die ersten Adepten unter allen Theetrinkern gelten, so wird dieser Gebrauch jetzt in England und auch von anderen unserer aufgeklärten Theetrinker nachgeahmt. Indessen behaupten die Chemiker, daß gerade das Theïn, das Arom, welches den Thee zum Thee macht, zuerst aufgelöst werde und später erst die schwerer lösliche Gerbsäure hinzu komme, die dem Thee seine braune Farbe und den herben Geschmack mittheile. Die Russen gießen also das Beste hinweg. Am rathsamsten ist's, man spült den Thee mit lauwarmem Wasser, welches reinigt, ohne das Theïn aufzulösen.

Zwischen dem russischen Kiachta und der Chinesenstadt Maimatschin wird der gesammte Landhandel zwischen Rußland und China vermittelt. Auch Maimatschin wurde besucht, ja das Künstlerpaar erhielt sogar Erlaubniß, nach Schluß der Thore die Stadt im Glanze der Papierlaternenbeleuchtung zu sehen, was eine besondere Vergünstigung war; denn Fremde mußten vor Thorschluß die Stadt verlassen. Unglücklicher Weise war gerade Hoftrauer, und die Theater waren in Folge dessen im ganzen himmlischen Reiche für ein Jahr geschlossen.

Nach Barnaul war inzwischen ein neuer Commandant, Oberst Strolemann, gekommen, der sein Amt mit einem Balle inaugurirte, und der „Commandantenball“ ist für Barnaul stets das größte Ereigniß im ganzen Winter. Da aber, wie schon bemerkt worden, hier alle Waaren von der Irbiter Messe bezogen werden müssen, die Strolemann's aber noch nicht mit dem Nöthigen versorgt waren, so hatten sie sich in Barnaul nur dürftig versehen können. So kam es denn, daß während des heitersten Ballvergnügens, als die Kerzen erst zum geringen Theile herabgebrannt waren, eine nach der anderen ausging und es bald immer finsterer wurde. Die Bedienten liefen herbei, die Kerzen wieder anzuzünden. Alles vergeblich! Endlich machte man die Entdeckung, daß die Dochte der Kerzen betrügerischer Weise nur durch den oberen Theil derselben hindurchgezogen waren. Es wurden allerdings noch zur Fortsetzung des Vergnügens ein paar Kerzen aufgetrieben, aber die Hausfrau fühlte sich tief beschämt durch die Störung des Festes, und die Stimmung der Damen, die ihren besten Staat auch bei glänzender Beleuchtung sehen lassen wollten, trübte sich wie der Ballsaal. –

Und trotz alledem klagt Frau Atkinson, als sie heimkehren mußte: „Ich muß seufzen, so oft ich daran denke, daß wir Sibirien, seine Eisblöcke, seine Schneegebirge, seine lieblichen Landschaften, seine erhabene Natur bald verlassen sollen. Fast möchte ich wünschen, ich wäre eine Kirgisin und dürfte wandernd herumziehen unter dem klaren Himmel auf saftigen Gebirgstriften!“

Der kleine Alatau Tamtschibulak entwickelte sich übrigens vortrefflich, und die „British Association“ veranstaltete nach dem Tode des Vaters, 1861, eine reiche Sammlung für seine weitere Erziehung und Ausbildung.

J. Loewenberg.




Erinnerungen an den alten Holtei.
Von Max Kalbeck.

Mir ist, als wäre es gestern erst gewesen, und doch liegen so viele unruhige Jahre dazwischen. Es war ein verhängnißvoller Besuchsweg, der einem ganzen Leben Ziel und Richtung geben sollte, und ich bin ihn ahnungslos mit dem Leichtsinn glücklicher Jugend gegangen, den Horaz unterm Arm und einige mit Versen beschriebene Blätter in der Tasche, halb zuversichtlich, halb verzagt – den Weg vom Magdalenen-Gymnasium der Stadt Breslau zu der Wohnung des „Alten von den drei Bergen“.

Als sechszehnjähriger Secundaner stand ich bei meinen Mitschülern im Ansehen eines Poeten. Ich las der Classe in den Zwischenstunden vor, was ich leider meist während des Unterrichts insgeheim gesündigt hatte, konnte auf eine große Schaar begeisterter Anhänger und auf ebenso viele kritische Widersacher zählen und war bei vielfältigen tollen Extravaganzen die Geißel und der Schrecken meiner armen Lehrer. Unter denen, welche mit mir dieselbe Bank drückten, befand sich auch ein aufgewecktes, naseweises rundes Kerlchen, das zur Partei meiner Gegner neigte und mir durch seine überlegene Skepsis besonders gefährlich erschien. Zwar hatte ich ihn einmal gründlich durchgebläut, weil er an einem unsträflichen Distichon etwas auszusetzen wagte, und ihn durch diesen Realbeweis scheinbar auch zu einer milderen und einsichtsvolleren Denkungsart bewogen. Allein damit war, wie ich bald merkte, nicht viel gewonnen. Er befleißigte sich in der Folge bei meinem Vorlesen eines heilsamen Stillschweigens und setzte sich damit bei den Anderen nur in um so größere Autorität. Als er uns nun gar eines Tages von ungefähr mit der Mittheilung überraschte, Herr von Holtei verkehre im Hause seiner Eltern, fühlte ich mich völlig überwunden. Der Umgang mit einem solchen über jeden Zweifel erhabenen Altmeister der Dichtkunst, den wir Alle kannten und verehrten, mußte meinen Widerpart berechtigen, in literarischen Dingen seine eigene Meinung zu haben.

Das leuchtete der Secunda und auch mir ein, und ich betrachtete unsern Kritiker fortan wie einen Bevorzugten mit Blicken scheuen Respects und heimlichen Neides. Tag und Nacht dachte ich jetzt an nichts als an die Möglichkeit, Holtei ebenfalls kennen zu lernen. Oft, wenn ich aus der Classe kam und meine eigenen Seitenpfade einschlug, die gewöhnlich an einem Lehrerinnen-Seminar vorüberführten, begegnete mir der Alte. Hochaufgerichtet, die Hände auf den Rücken gelegt, mit den Augen den Blicken der Vorbeigehenden ausweichend, schritt er durch die Menge, eine Erscheinung, so herrlich und würdevoll, wie man sie selten wieder treffen wird. So kann nur ein wirklicher Dichter aussehen, sagte ich mir, wie dieser schöne große Mann mit den wallenden weißen Locken und den leuchtenden blauen Augen. Mich überlief es immer kalt und warm, wenn ich an die Verwegenheit dachte, jemals ein Wort an ihn zu richten; unwillkürlich wich ich ihm aus, sobald er kam, und zog meine Mütze. Einige Male schlug er die Augen zu mir auf und griff dankend an den braunen Calabreser. Das war ein Triumph – hatte er mich doch wenigstens angesehen.

Inzwischen war ich Primaner geworden, von Homer und Virgil zu Horaz und Sophokles übergegangen, und dichtete immer wüthender darauf los, als verlange man von einem Abiturienten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_260.jpg&oldid=- (Version vom 3.5.2021)