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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Als die Sonne einen Strahl auf das Fenster warf, sagte sie langsam: „Die Sonne kommt – und ich gehe –“ Und dann schloß sie die Augen und öffnete sie nicht wieder. –

Am dritten Tage nach meiner Großmutter Begräbniß ging ich nach Rouen; mir war bange um Theresa.

Als ich in den Flur ihres Hauses trat, kam mir der Geruch von Weihrauch entgegen. Man führte mich in ein Zimmer, in welchem viele Blumen und viele Bücher waren, und Theresa stand in einem schwarzen Kleide bei den Blumen. Sie war sehr blaß. Ich war mit einem großen Muth und einem großen Entschlusse gekommen; dennoch bebte ich, als ich eintrat und sie sah – ihre Gestalt erschien mir edel und schön.

„Guter Herr,“ sagte Theresa traurig und reichte mir die Hand.

„Ich habe immer an Sie gedacht,“ stammelte ich, „aber ich konnte nicht früher kommen; es ist mir ein großes Unglück geschehen – meine Großmutter ist gestorben.“

Sie blickte mich mit heiligem Schrecken an:

„Großer Gott! Sehen Sie nicht, daß ich ganz schwarz gekleidet bin? Man hat meinen Großvater gestern begraben.“ Und sie brach in Schluchzen aus.

„Theresa!“ Ich kniete vor ihr nieder und küßte ihre Hände.

„O – o, stehen Sie auf!“ bat sie sanft, „Sie bringen mich aus aller Fassung.“

Da erhob ich mich, und sie wehrte mir nicht, als ich meinen Arm um sie schlang und sie auf einen Divan zog. Nach einem Schweigen voll innigen Schmerzes sagte ich leise:

„Theresa, wir haben ein gleiches Schicksal –“

Sie nickte, trocknete ihre Thränen und strich sich das schwarze Haar aus der Stirn; dann wollte sie ein wenig von mir wegrücken, aber ich hielt sie um so fester.

„Theresa, bleiben Sie!“ bat ich. „Ich habe ein paar Fragen an Sie zu richten – versprechen Sie mir beim Andenken Ihres Großvaters, mir aufrichtig zu antworten!“

„Ich verspreche es Ihnen,“ sagte sie zitternd.

„Theresa – als Sie mich zum ersten Male sahen, erschraken Sie nicht vor mir?“

Sie blickte mich erstaunt an und sagte: „Nein!“

„Sie empfanden keinen Abscheu?“

„Abscheu?“

„Es zog sich nichts in Ihnen zusammen?“

„Nein!“

„Sie dachten nicht: O, wie entsetzlich!?“

„Nein, nein! Aber warum fragen Sie mich dies?“

„Weil ich weiß, daß ich grauenhaft häßlich bin.“

„Nein, das sind Sie nicht,“ rief sie und setzte leise hinzu: „Aber ich bin es.“

„Theresa, Sie kennen sich nicht. Sie haben lauter falsche Spiegel im Hause. Meine Seele ist der einzige, der Sie so zeigt, wie Sie wirklich sind. Blicken Sie einmal hinein! – O, wenn Sie wüßten, wie mir war, als ich neulich von Ihnen wegging! Draußen vor der Stadt, im Wetterleuchten, brach es wie ein feueriger Strom in mir aus. Und ich sprach zu Ihnen – o Theresa, haben Sie es nicht gehört?“

Sie schauerte in meinen Armen und drückte ihr Gesicht an meine Brust.

„Ich hin noch jung an Jahren, Theresa, beinahe so jung wie Sie, aber in Gedanken bin ich ein Mann. Als ich erfuhr, wie häßlich ich bin – wehren Sie mir nicht, Theresa! – da war ich ganz vernichtet, dann aber fing ich an, die Schönheit zu hassen, und jetzt verachte ich sie. Und da Sie, edles Mädchen, keinen Abscheu vor mir empfinden –“

Sie athmete tief, und sie zitterte.

„Theresa, sagten Sie aus Mitleid oder aus Philosophie, daß Sie keinen Abscheu vor mir empfinden?“

„O, sprechen Sie doch das entsetzliche Wort nicht mehr aus! Sie sind ja nicht häßlich – Sie sind schön.“

Da kam ein himmlischer Rausch über mich – ich wußte jetzt, daß ich geliebt war.

„O Theresa,“ sagte ich mit Inbrunst, „ich liebe Dich. Ich liebe Dich mit der hohen Geistesliebe und mit der süßen Herzensliebe. Wäre ich Deiner doch schon würdig! Wären wir doch schon im stillen Hause am Meeresstrande! So groß und stark und tief und von gewitternder Leidenschaft, wie das Meer, soll unsere Liebe sein. Und wenn neugierige Menschen unsere Einsamkeit stören wollen, dann werden die Meervögel sie verscheuchen mit den großen sturmrauschenden Flügeln. Theresa, es ist ein großer hoher Saal in meinem Hause; seine Fenster gehen auf’s Meer; am Abend scheint eine Glorie von allen Farben in den Saal herein, und das Meer singt große heilige Gesänge. Es sind auch kleinere, lauschige Gemächer in meinem Hause; ihre Fenster gehen auf ein Tannenwäldchen, von wo würziger Duft und süßer Vogelsang herdringen. Und im Garten, Theresa, blühen Veilchen und Flieder und Rosen und Geranien, und die Mauern sind mit Epheu umrankt, wie alte Ruinen, und der ganze Wohnplatz ist mit träumerischem Zauber umsponnen. Theresa, willst Du in jener Einsamkeit mit mir leben – für immer?“

„Für ewig!“




Die edle Theresa zauberte eine wohlthätige Milde in mein Gemüth, und die Poesie ihrer Augen sang alle schmerzlichen Erinnerungen in mir zur Ruhe. Einige Wochen, nachdem ich ihre Liebe gewonnen, that ich die harte Pflicht gegen mich selbst, sie für ein Jahr zu verlassen; ich besaß wohl eine allgemeine höhere Bildung, denn ich hatte viel gelesen und von Alphons über das Wesen und den Geist der Kunst Vieles gelernt, aber ich fühlte den inneren Drang und, der hochgebildeten Theresa gegenüber, die Nothwendigkeit, mir ein positives Wissen anzueignen.

Deshalb ging ich mit Alphons nach Paris, um an der Universität und den anderen geistigen Quellen jener Stadt meine Kenntnisse zu vermehren.

Ich stürzte mich mit Leidenschaft in die Studien. Jeden dritten Tag erhielt ich einen Brief von Theresa und erwiderte ihn sogleich. Ich führte sie in meinen Briefen durch die Straßen von Paris, in die Hörsäle der Universität, in die Concerte und Kunstgallerien, in die Gärten und Wäldchen und auf die Blumen- und Vogelmärkte und – durch mein Herz. Ihre Briefe enthielten nicht so Vielerlei wie die meinigen, aber sie enthielten dennoch mehr, und sie wurden ein leidenschaftliches Bedürfniß für mich.

Alphons, der nie lange an einem Orte bleiben konnte, verließ Paris nach dreimonatlichem Aufenthalte.

„Maurus,“ sagte er, „ich will ein wenig nach Italien hinuntergehen, meine Füße sind ungeduldig.“

„Und Suleika?“ fragte ich lächelnd.

„Ich kann nicht immer in Person bei meiner Frau sein, doch in Gedanken bin ich’s. Ich bin fort und bin nicht fort.“

„Aber wenn Du ihr untreu würdest?“

„Du weißt, daß ich mir keine Frau mehr kaufen kann.“

In der That, Alphons hatte viel mehr von seinem Vermögen verbraucht, als seine Mutter geahnt hatte. Es schwebte schon eine fremde Hand über seinem Hause, und von den übrigen Besitzungen trug keine mehr den Namen Conihoult. Aber dies machte ihm keine Sorgen. „So lange ich noch Mittel habe, so lange will ich genießen,“ sagte er. „Eine vorsichtige, kleine Existenz ist kein Leben. Wenn ich einmal nichts mehr habe, dann werde ich Eremit.“

Es war meinem Auge und meinem Gefühle nicht entgangen, daß Alphons’ Freunde und Bekannte, als sie mich zum ersten Male sahen, vor mir erschraken, und manche unter ihnen konnten auch später noch die Ueberwindung nicht verbergen, zu welcher sie im Gespräche mit mir sich anstrengten. Was jener Maler im Garten meiner Großmutter vorausgesagt, war auch eingetroffen: ich hatte junge Mädchen die Köpfe zu einander stecken und lachen sehen, wenn ich in eine Gesellschaft trat. Ich sah auch, daß ich in manchen Menschen Mitleid erweckte, aber ich bäumte mich vor der Ueberwindung, vor dem Lachen und vor dem Mitleid, und benahm mich mit unsäglichem Stolze und fühlbarer Verachtung. Am allerfühbarsten war meine Verachtung den schönen Menschen und den Kunstwerken gegenüber, welche nur die Schönheit ausdrückten.

Fern von Theresa’s Augen, ihrer sanften Stimme und ihren milden versöhnenden Worten fühlte ich den Zwiespalt wieder in meine Seele schleichen; ich ward düster und hochfahrend, und man fand, ich sei ein unverschämter Mensch, der sein Gesicht wohl verdiene.

Da Alphons’ Bekannte jenen Kreisen angehörten, welche der Schönheit in allen Lebens- und Kunsterscheinungen einen wirklichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 853. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_853.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)