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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

und das Hangen und Bangen dabei war nichts, als die feige Furcht vor einem drohenden gewaltsamen Tode. Seitdem ist sie mir gänzlich entschwunden. Lebt sie? Ist sie gestorben? Ich weiß es nicht. Das Letztere ist jedoch das Wahrscheinlichere. Nur Eines weiß ich sicher: daß ich leider mit ihr verheirathet bin – das ist aber auch Alles.“

Die hübsche Wittwe hatte, während er sprach, lächelnd den Kopf erhoben; nun strich sie die rebellischen Locken zurück und betrachtete den gelehrten Gast mit einem so heiteren, schelmischen Blick, daß der Professor förmlich zusammenfuhr. Die Baronin spielte indessen gedankenvoll mit ihrem Theelöffel.

„Ich will – ich muß offen sein,“ stieß der Arme endlich heraus. „Sie sollen Alles wissen.“ Und gesenkten Hauptes, als habe er nicht den Muth, die Wirkung seiner Worte zu beobachten, gab er eine wahrheitsgetreue Schilderung seines Abenteuers, in der, wo immer er von der Verschwundenen sprach, seltsamer Weise verrätherisch warme Töne klangen, je weiter zum Schluß hin, desto deutlicher.

Endlich war er am Ende seiner Erzählung, und als er mit fast schüchternem Aufblicke sein Urtheil in den beiden Frauengesichtern lesen wollte, erstarrte er förmlich: der Eindruck, welchen die Erzählung hervorgerufen, entsprach nach keiner Seite seinen Erwartungen. Die satirische Laune der lachlustigen Baronin sprach trotz der traurigen Beichte in Blitzen aus ihren Augen, und auch die reizende Wittwe schien den schweren Schlag mit vieler Fassung zu ertragen, wenngleich ihr Antlitz sich tiefroth gefärbt hatte – der Blick des Professors ruhte auch gar zu forschend auf ihr!

Dieser hätte nun durch die glückliche Gleichgültigkeit sich ungemein erfreut fühlen sollen, allein er empfand etwas ganz Anderes. Enttäuschung, Demüthigung, Zorn gegen sich und gegen sie, die schöne Verrätherin, und mehr noch, ein unaussprechlicher brennender Schmerz wogten wild in seiner Brust, und es war ihm, als müsse er nun aufstehen und gehen – fort von ihr, nur rasch, nur so bald wie möglich.

„Und Sie haben nie wieder etwas von Ihrer armen Frau gehört?“ brachte endlich die Baronin hervor, nachdem sie ein paar Augenblicke das Taschentuch vor ihren Mund gehalten. „Sie haben nie weiter versucht, etwas von ihr zu erfahren?“

„Was sollte ich thun? Ein paar Mal ließ ich Aufrufe in ausländischen Blättern veröffentlichen, allerdings in einer Form, die nur ihr verständlich sein konnte – doch es war ohne Erfolg.“

„O diese Männer!“ rief die Baronin in scherzhafter Entrüstung, „da lassen Sie ein armes Kind, das nichts vom Leben weiß, sich allein in die weite Welt verlieren und meinen, es sei genug gethan mit ein paar Aufrufen in den Zeitungen, als handle es sich um ein verlorenes Portemonnaie – ist das auch recht?“

„Sie vergessen, daß sie mich freiwillig verlassen hat,“ versetzte Walter etwas ärgerlich; „hätte sie es nicht gethan, so würde ich ganz gewiß mich wie ein Bruder ihrer angenommen haben. Sie hat es jedoch vorgezogen, sich ihren Weg allein zu suchen; sie mag dazu ihre Gründe gehabt haben – es thut mir leid – damit endet aber auch meine Pflicht.“

„Aber sie ist nun einmal Ihre Frau!“ warf die Baronin ein.

„Dagegen muß ich entschieden protestiren. Wenn ein paar Worte, unter dem Dolch des Mörders abgerungen, genügen könnten, mich für mein ganzes Leben an ein Wesen zu binden, das ich nicht kenne, das mir vollkommen gleichgültig ist und das, wenn ich es kennen würde, vielleicht weder Theilnahme noch Achtung verdient, dann wäre der Tod, dem ich durch jene haltlose Ceremonie entgangen bin, unter gewissen Umständen einem so traurigen Schicksal bei weitem vorzuziehen.“

„Aber hat Ihnen denn die Unglückliche Veranlassung zu einem so strengen Urtheil gegeben?“ fragte die Baronin.

„Durchaus nicht. Ich sagte Ihnen ja, gnädige Frau, daß ich sie nicht kenne; ich kann also kein Urtheil über sie haben. Ja, das Wenige, was ich von ihr weiß, hatte mich eher günstig für sie gestimmt. Ich stand freilich unter dem Eindruck des Mitleids. Wäre sie nur geblieben, so hätte sich wohl Alles durch eine rasche gesetzliche Scheidung noch zum Guten lenken lassen. Für sie wäre allerdings der Vortheil nur gering gewesen, denn die Aermste war schwer krank und wird, aller Wahrscheinlichkeit nach, längst gestorben sein.“

„Und wenn sie nicht gestorben wäre, wenn sie jetzt in dies Zimmer träte, gesund und blühend und mit allen Gaben geschmückt, die einen Mann bezaubern und beglücken können, würde da Ihr Herz nicht plötzlich für sie aufflammen, würden Sie nicht aufspringen, ihr die Arme öffnen und die Wiedergefundene mit Jubel als Ihre Frau anerkennen?“

„Nein, Frau Baronin!“ rief Walter beinahe heftig, denn diese Beharrlichkeit der Baronin, die seine Gefühle doch längst durchschaut haben mußte, zu Gunsten einer lästigen Unbekannten zu sprechen und noch dazu in Gegenwart der Geliebten, verdroß ihn über alle Maßen. „Nein! Ich würde mich freuen, daß es ihr wohl geht; ich würde, wenn es in meiner Macht stände, herzlich gern zu ihrem Glück an der Seite eines Andern beitragen, aber ein Mädchen als mein Weib anerkennen, das Monate lang in der Gewalt eines Menschen wie dieser Melazzo gewesen ist – niemals! Und ich glaube nicht, daß irgend ein Mann es thäte, dem seine Ehre heilig ist.“

Hier fühlte er den Tisch wie von einem elektrischen Schlage erschüttert. Die junge Wittwe, welche während der letzten Reden, die Stirn in der Hand gestützt, gedankenvoll gesessen, hatte sich rasch erhoben und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sprechen, oder sich nur nach den Zurückbleibenden umzusehen.

Die Baronin sah ihr erschrocken nach, stand dann ebenfalls auf und mit einer flüchtigen Entschuldigung gegen ihren Gast folgte sie ihrer Schwester.

Auch Walter war in die Höhe gefahren und stand wie vom Donner gerührt. Hatte er sich denn geirrt? War die Ruhe, die ihn so schmerzlich verletzt, nur Verstellung gewesen, und hatte das Gefühl jetzt plötzlich die Oberhand gewonnen und zwar mit solcher Gewalt?

Die Baronin kehrte bald zurück.

„Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht länger zurückhalte!“ sagte sie; „meiner Schwester ist plötzlich sehr unwohl geworden.“

„Großer Gott!“ stammelte Walter.

Alles Blut war nach seinem Herzen zurückgewichen.

„Aber ist es denn möglich?“ rief er. „Kann ich glauben, daß ich –“

„Verzeihen Sie! Ich muß zu ihr,“ unterbrach ihn die Baronin, und sie war schon an der Thür.

Walter nahm seinen Hut; er wollte fort und konnte nicht. Er wartete; er zögerte er horchte. Der Diener kam herein, um das Theegeschirr abzuräumen; der Professor zögerte noch immer. Der Mann kam und ging ein paar Mal und sah den hartnäckig weilenden Besucher verwundert an. Walter fühlte, daß er nicht länger bleiben durfte, und so, noch immer zögernd und auf der Schwelle noch sich umdrehend, entfernte er sich.

In seinem Zimmer wandelte er rastlos hin und her. An Schlaf war nicht zu denken. Alle Qualen, die er in den letzten Tagen und Nächten durchgemacht, kehrten in diesen Stunden mit verzehnfachter Kraft zurück. Er verwünschte seine unselige Heirat, die Feigheit, die ihm den Tod als das schrecklichste Uebel vorgespiegelt – er verwünschte sogar seine Wissenschaft oder vielmehr den Eifer, der ihn, um ihr besser zu dienen, in die Ferne getrieben. Warum war er nicht als prakticirender Arzt daheim bei den mütterlichen Fleischtöpfen geblieben? Er vergaß, daß er dann wahrscheinlich dem Drängen seiner Mutter nachgegeben und das blonde Bäschen heimgeführt hätte. Ach, er dachte so wenig an das blonde Bäschen wie an irgend eine der zahlreichen Blonden und Braunen, mit deren Anpreisung die unermüdlichen Ehevermittler ihn in die Flucht geschlagen – er dachte, fühlte, sann und begehrte nur die Eine, nur Lucia.

Und zwischen all diesem Elende zitterte doch manchmal mit unsagbarer Wonne die Ueberzeugung durch sein Herz, daß er geliebt werde, daß es diesmal keine Täuschung, sondern entzückende Wirklichkeit sei.

Noch nie war ihm eine Nacht so lang erschienen. Tausendmal fühlte er sich versucht, trotz Dunkel und Stille, zu der Baronin zu eilen, und sobald im Hôtel das Leben sich zu regen begann, ließ er sich nach Lucia’s Befinden erkundigen. Die Damen, hieß es, seien noch nicht sichtbar, und Walter mußte sich gedulden. Er benutzte die Zeit, um so viel wie möglich die Spuren seiner qualerfüllten Nacht an seinem Aussehen zu verwischen. Er kleidete sich um, nahm ein Bad, frühstückte, oder versuchte es vielmehr, und da weder die Baronin noch ihre Schwester sich auf der Morgenpromenade sehen ließen, ging er, sobald es die Stunde erlaubte, zu ihnen hinüber.

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