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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

den anderen Zeugen aus dem Gerichtshause der Residenz getreten sei, da sei vor allem Volk der alte stolze Bauer auf Margret zugetreten, habe schweigend ihre Hand in die des Sohnes gelegt, sie als seine liebe Tochter angeredet, umarmt und auf den bereitstehenden Zweispänner gehoben; er habe sie dann in Person auf seinen schönen Bauernsitz drüben auf der Höhe gefahren. Darauf sei die Hochzeit mit aller bäuerlichen Pracht, fast mit Verschwendung ausgerichtet worden, und der Alte habe dem jungen Paar den Gasthof zum „Hirsch“ im Städtchen gekauft und eingerichtet, der damals billig zu haben war, weil er wenig Zuspruch hatte. Der Alte habe dem jungen Paar auch etwas zu thun übrig lassen wollen: sie sollten ihr Haus selber vorwärts bringen.

Die Alten brauchten den Jungen nicht erst zu sagen, daß heute der „Hirsch“, in dem die stattliche Wirthin Margret Stephan waltete, der erste Gasthof der Stadt sei. Das wußte das junge Volk selbst sehr genau. Namentlich seit einigen Jahren sah man die heirathsfähigen jungen Männer der Stadt fast jeden Abend im „Hirsch“ versammelt.

Der Magnet, der alle anzog, war der Wirthin holdseliges Töchterlein, ihr einziges Kind, das der Mutter in der Gaststube, in Küche und Keller tüchtig zur Hand ging. Um ihretwillen ließ sich das junge Volk auch willig von den Alten jene grausige Mordgeschichte erzählen, bei der Frau Margret Stephan eine so bedeutsame Rolle gespielt hatte. Viel umworben war das frische, schöne Mädchen, aber gleich freundlich war sie gegen Alle; Niemand sah sich bevorzugt. Keiner der jungen Männer mochte darum die Hoffnung aufgeben, der jungen Margret schöne Augen einstmals doch noch besonders auf sich zu lenken, und nach wie vor dauerte der Wettlauf um ihre Gunst.

Alle diese Hoffnungen mußten freilich auf unbestimmte Zeit vertagt werden, als etwa vor Jahresfrist plötzlich das Gerücht die Stadt durchlief, der Gastwirth Stephan sei nach kurzer Krankheit einem hitzigen Fieber erlegen. Das ganze junge Geschlecht eilte in’s Trauerhaus, um sein Beileid zu stammeln und kehrte mit der Versicherung nach Hause zurück, daß auch die Trauergewänder dem Mädchen reizend ständen. Die Blüthe der männlichen Jugend der Stadt erwies dem todten Wirth die letzte Ehre auf dem weiten Wege bis zum Erdbegräbniß der stolzen Bauernfamilie Stephan, das auf dem Dorfkirchhof jenseits des Berges lag.

Alles wurde aufgeboten, in den kommenden Monaten die Waise zu trösten, zu gewinnen. Sie war aber dieselbe wie zuvor; gleichmäßig freundlich gegen Alle, von der Bevorzugung eines einzelnen der vielen jungen Männer weiter entfernt als je. Daß sie der Mutter nun immer in der Wirthschaft, im Hause helfen müsse, sich nicht von ihr trennen dürfe, sprach sie nach dem Tode des Vaters wiederholt aus.

Das waren nur vertrauliche Aeußerungen Margret’s, aber das Städtchen erfuhr sie doch. Der große Generalstab des Städtchens in Enthüllung der Herzenspläne von Mitbürgern aber hatte einen feinen Trost in Bereitschaft für Diejenigen, welche klagten, die kleine Margret wolle für immer bei der Mutter bleiben.

„Das wird plötzlich einmal anders werden,“ orakelte es. „Der alte Kern wird der Sache schon eine Wendung geben.“

„Der alte Kern?“ fragte die betheiligte Jugend ungläubig.

„Freilich, der alte Kern – alt sollte man eigentlich nicht sagen, denn wie alt kann er denn sein? Nun, ein hoher Vierziger. Für einen Junggesellen freilich schon ein etwas reifer Frühling! Aber alte Liebe rostet nicht. Wenn der die Margret vor zwanzig Jahren hätte haben können – Ihr braucht nicht zu lachen, ich meine nicht die achtzehnjährige Wirthstochter, sondern ihre Mutter – hätte er sie gleich heimgeführt. Er hat sie geliebt seit der Mordjohannisnacht. Aber sie hatte einmal Gustav Stephan das Wort gegeben. Habt Ihr, so lange Ihr lebt und denken könnt, einen einzigen Tag gesehen, an dem der alte Kern nicht regelmäßig um ein Uhr zum Mittagessen und um sieben Uhr zum Abendessen in den ‚Hirsch’ gegangen wäre? Aber diesen Mann und diese Frau in Ehren, Kinder! Keiner kann der Hirschwirthin etwas nachsagen. Ihre ganze Ehe war wie ein einziger Sonnentag. Aber sie mag den Amtsrichter sehr gut leiden und hat so großen Respect vor ihm, wie wir Alle. Und ihr seliger Mann war ihm auch so gut. Also, Kinder, ich will nichts gesagt haben, aber man kann Alles noch erleben. Und dann ist natürlich für die erwachsene Tochter kein Bleiben im Hause. Mutter und Stiefvater werden sie rasch zu versorgen trachten.“

So urtheilte der Generalstab, und dieses Urtheil – kam den Empfindungen Kern’s wirklich sehr nahe.

Einmal, ein einziges Mal in seinem Leben war ihm ein Wort der Liebe zu Margret, der Verlobten Gustav Stephan’s, auf den Lippen gestanden. – In jenem Augenblicke, als Margret dem verurtheilten Mörder Josua King zum letzten Mal begegnet war, hatte Kern im Zeugenzimmer sich eingefunden. Er stand dem Mädchen allein gegenüber, unter dem unmittelbaren Eindrucke der Tragödie, die im Verhandlungssaal zu Ende gegangen war, bei der er Margret die Rolle der ersten Heldin noch einmal hatte spielen sehen. Im Glauben, ihre Neigung zu Gustav Stephan sei eine verlorene erste Liebe, die auf den rauhen Klippen der Wirklichkeit Schiffbruch gelitten, hatte er sich der Hoffnung hingegeben, Margret werde bei dem häufigen Verkehr mit ihm während der letzten Monate wenigstens sein redliches Wollen erkannt haben und ihn so gut für würdig hatten, an ihrer Seite durchs Leben zu gehen, wie manchen Andern. Er schmeichelte sich, daß die Ehre und Würde seines Amtes seinen Heirathsantrag wesentlich befürworten werde, und meinte, als Mann Margret’s volle Zeit und Gelegenheit zu finden, um die Unterschiede in ihrer beiderseitigen Bildung immer mehr auszugleichen. Das Alles hatte er sich wochenlang überlegt und nun den Muth gefunden, ihr Alles zu sagen.

Er schritt auf sie zu, faßte herzlich ihre Hand, blickte ihr ernst in die verwunderten Augen und sprach feierlich:

„Margret, ich habe ein ernstes Wort mit Ihnen zu reden.“

„Herr Amtsrichter, Sie erschrecken mich –“

„Nicht doch, Margret, ein Wort freudigen Inhalts für uns Beide, wie ich hoffe. Margret, ich wollte sagen, daß ich –“

„Ach, entschuldigen Sie, Herr Amtsrichter,“ meldete in diesem Augenblicke der Wachtmeister, „unten am Eingange des Gerichtsgebäudes steht ein Herr Gustav Stephan, der die Zeugin Margret gern gleich sprechen möchte.“

„Gustav – hier!“ stammelte Margret erröthend, indem sie ihre Hand derjenigen Kern’s entzog. „Ach, Herr Amtsrichter, Sie sagen mir das, was Sie mir sagen wollten, wohl nachher!“

Damit eilte sie aus dem Zimmer, die Treppe hinab.

Kern war ihr gefolgt. Er war Zeuge, wie der alte Stephan vor allem Volk sie seinem Gustav verlobte und auf seinen Zweispänner hob. Das arme Fahrzeug der ersten Liebe Margret’s, das Kern auf den Klippen gestrandet glaubte, fuhr als stolzer Dreimaster mit flatternden Wimpeln heim in den Hafen der Ehe. Er zerdrückte verstohlen eine Thräne. Das Wort, das Margret in der nächsten Minute von ihm hören wollte, wurde nie gesprochen.




Zwanzig Jahre waren vergangen seit dieser Zeit, und während neunzehn derselben hatte Kern seine Liebe zu Margret begraben geglaubt für immer. Er war ihr und ihrem Gatten allezeit der treueste Freund gewesen. Er hatte sein Hauptquartier im Hirsch aufgeschlagen und dadurch den besten Theil der Honoratioren des Städtchens nach sich gezogen. Er war in guten und bösen Tagen dem jungen Paar mit Rath und That treulich zur Seite gestanden, und die kleine Margret hatte an „Onkel Kern“ einen zweiten Vater. Er spielte mit ihr, als sie klein war, bestimmte später über ihre Erziehung und controlirte den Fleiß und die Fortschritte des Kindes, die Methode und Leistungen der Lehrer. Kern war glücklich in dem Glücke des Stephan’schen Hauses, als ob es sein eigenes gewesen wäre. Margret war ihm diese lange Reihe von Jahren hindurch das Sonnenlicht, dessen er bedurfte, um zu leben, das er aber so wenig zu eigen begehrte, wie das Licht des Himmelsgestirns.

Mit einem Male hatte der Tod jäh die Bande gelöst, die Kern bis zum Ende seiner Tage als unübersteigliche Schranke seiner Liebe gezogen geglaubt. Margret war frei. Sie war noch nicht vierzig Jahre alt, er selbst noch nicht fünfzig. Aufrecht und energisch schritt er einher; das volle Haar und die kräftigen muskulösen Züge seines Gesichtes gaben ihm immer noch ein recht leidliches Aussehen. Spät war es allerdings geworden für den Frühling in diesem Herzen. Aber dieses Herz war noch des Frühlings fähig.

Monate waren vergangen seit dem Tode des Hirschwirthes Stephan, ehe Kern sich die Frage vorlegte, ob dessen Wittwe jemals daran denken werde, ihren Wittwenstand aufzugeben. Und abermals vergingen Monate, ehe Kern dieser Frage gestattete, öfters bei ihm einzukehren, sie nicht schroff abwies, wie das erste Mal. Man

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