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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


alten Bilder tauchten wieder vor mir auf, und das Dazwischenliegende zerrann in Nichts; mein Schicksal war entschieden. In meiner Schwärmerei verließ ich Familie, Freunde, Lebensstellung und Heimathland und eilte über das Mittelmeer dem bedrängten Vater der Christenheit zu Hülfe.

So ward ich Schlüsselsoldat.

So überzeugt und begeistert ich aber war, so war ich doch nicht blind, und wer das nicht war, sondern ehrlich nach der Wahrheit forschte, mußte trotz aller günstigen Voreingenommenheit die Heillosigkeit der römischen Herrschaft bald einsehen. Die an Sprüchwörtern so reiche italienische Sprache hat sicher kein wahreres, als das alte: Roma veduta, fede perduta – Rom gesehen, den Glauben verloren! Ueber Rom konnte man sich blos in der Entfernung täuschen; dem Nähertretenden gingen alsbald die Augen auf. Es geht mit allen Despotieen so.

Bald ging denn eine gewaltige Veränderung in mir vor. Anfänglich suchte ich mich, wenn mir etwas mich in meinen Illusionen Störendes aufstieß, mit meiner Unkenntniß des Zusammenhanges und der Landesart, wohl auch mit der dem Mißbrauch zu Grunde liegenden guten Meinung zu beschwichtigen. Ich klammerte mich fest an meine Ueberzeugung und strebte, sie vor mir selbst zu retten. Aber vergebens; je mehr ich das Detail der Mittel und Erfolge dieser christlichen Regierung erkennen lernte, indem ich dabei selbst zum Theil als Werkzeug dienen mußte, desto mehr verschwand das Zauberlicht, in dem ich die Dinge bisher gesehen, und die nackte, scheußliche Wirklichkeit enthüllte sich mir, mein Jugendideal, für das ich so viel geopfert, gründlich zerstörend.

Ich hatte in Rom die göttliche Gerechtigkeit, die christliche Liebe, das Glück der Menschheit, eine milde, väterliche Regierung, die nicht nach der herrsch- und selbstsüchtigen Art anderer Regimes waltet, sondern nach den segenverheißenden Grundsätzen der Religion, ich hatte Land und Volk geistig und materiell glücklich und zufrieden gewähnt, wie es mir immer geschildert worden. Und was mußte ich statt dessen sehen! Selbst die lebhafteste Phantasie vermag sich kaum eine Vorstellung zu machen, wie unbeschreiblich elend die päpstliche Regierung war, und für die römischen Zustände bieten sich heute nur noch in der Türkei Vergleiche.

Das herrliche Land, von der Natur gesegnet und einst ein lachendes Gelände voll Fruchtbarkeit und hoher Cultur – ich fand es zum großen Theil verödet und versumpft, als einen Herd böser Seuchen; an Stelle der Gärten und Fruchtfelder erstreckten sich unabsehbare verwilderte Viehweiden, und wo einst volkreiche Städte und Villen standen, vermochte das Auge stundenweit kaum eine elende Rohrhütte zu entdecken. Das Volk aber sah ich herabgekommen wie sein Land, über jede Beschreibung elend und bettelarm. Die gleich Wilden in Schaf- und Ziegenfelle gekleideten Hirten, die jahraus, jahrein mit ihren wilden Heerden in der menschenleeren Campagna hausen, elend genährt, obdachlos und verwahrlost, und die erbarmenswürdigen Gestalten der Tagelöhner, die zur Erntezeit in Haufen von ihren Bergen herabsteigen, fieberbleich und in schmutzige Fetzen gehüllt, um wenige Bajocchi zu verdienen – sie schienen mir eher verachtete und rechtlose Sclaven des Alterthums, als freie Arbeiter des neunzehnten Jahrhunderts zu sein. Kein Stück von ihren Heerden und keine Handbreit des Bodens gehörte ihnen; Niemand achtete sie; Niemand nahm sich ihrer Noth und ihrer Unwissenheit an; für sie gab es weder politische noch persönliche Rechte.

Die nothwendige Folge dieser Zustände blieb nicht aus: die Moralität dieses religiösesten Volkes stand auf einer in civilisirten Ländern unerhört niedrigen Stufe. Die Unsicherheit von Gut und Leben war sprüchwörtlich; der Straßenraub florirte, und die Gefängnisse des Miniaturstaates beherbergten in einem Jahre nicht weniger als 600 Mörder, 25 Elternmörder, 12 Gattenmörder – von sonstigen Verbrechen gar nicht zu reden.

Dagegen war diese Hölle des Volkes ein Lustheim seiner Beherrscher, des Pfaffenthums und des Adels. Immense Reichthümer befanden sich in ihren Händen, und das ganze Land fast war ihr Privateigenthum. Die kirchlichen Genossenschaften besaßen für mehr als eine Milliarde Grundbesitz, und es gab Kirchengüter, die 80 bis 100 Quadratkilometer groß waren; der Agro Romano, eine Fläche von 36 geographischen Quadratmeilen, befand sich im Besitz von 113 Familien und Congregationen. Die römische Aristokratie war eine der reichsten stolzesten und üppigsten. Selbstredend hatten die beiden eng verbündeten Stände auch die politische Macht in Händen, die sie schonungs- und gewissenlos und mit den verwerflichsten Mitteln gegen ihre „christlichen Mitbrüder“ zu ihren Zwecken anwandten. Die Corruption dieser Kreise, vor Allem des Pfaffenthums, spottete jeder Beschreibung; Herrschsucht, Stolz, Heuchelei, Lüge, Betrug, Gewaltthat, Verschwendung und Unsittlichkeit rangen um den Ehrenpreis.

Die Vergeudung war so ungeheuer, daß für den Aufwand des „Knechtes der Knechte Gottes“ und seiner Leute auch die gründlichste Auspressung des armen Ländchens nicht mehr als einen Tropfen auf einen heiße Stein lieferte. So wurden denn die alte und neue Welt systematisch gebrandschatzt und „ganze Länder aufgefressen“ – man verstand es, nach den Worten Julius des Zweiten, „die Fabel von Jesus Christus“ einträglich zu machen und den Schmutz der Sünden der Menschheit durch die Zauberkraft des Fischerrings in eitel Silber und Gold zu verwandeln. Milliarden über Milliarden wanderten seit Jahrhunderten für Annaten, Pallien, Dispense und Ablässe und als freiwillige Peterspfennige nach der Tiberstadt. Und trotz alledem gab es keine finanziell zerrüttetere Regierung, als die päpstliche.

Ebenso elend, wie mit den Finanzen, war es mit der ganzen Verwaltung bestellt, In der Administration, in der Polizei, in der Justiz, im Verkehr – überall herrschte Unordnung, grauenhafter Schlendrian, allgemeine Desorganisation. Aller Erwerb lag darnieder; kein Gewerbe, keine Industrie, kein Handel, kein Ackerbau, kein wissenschaftliches Streben – das ganze Gebiet war wie vom Fluch getroffen, und der Staat des Papstes schien sich in Wahrheit, nach Goethe’s treffendem Wort, nur zu erhalten, weil ihn die Erde nicht verschlingen wollte.

Solche Zustände mußten selbst das entkräftetste und geduldigste Volk zu Versuchen der Selbsthülfe aufreizen, um den unerträglichen Druck, der auf ihm lastete, zu erleichtern. An Aufständen und Verschwörungen fehlte es denn auch keineswegs, aber die Macht der Tyrannei war zu groß, und jede Regung des Volkes ward auf’s barbarischste unterdrückt, wozu freilich die eigene Macht der römischen Regierung nie ausreichte; es mußten vielmehr stets gesinnungsverwandte Herrscher aushelfen. Aber diese Schwäche war auch der ärgste Vorwurf in den Augen der übrigen Regierungen; um ihn zu beseitigen und die Fähigkeit einer selbstständigen staatlichen Existenz darzuthun, beschloß die päpstliche Regierung eben nach 1866 eine formidable Heeresmacht aufzustellen.

Diese „Armee“ bestand nun in ihrem Gros aus in aller Herren Ländern angeworbenen Leuten, aus arbeitsscheuen Handwerkern, entlaufenen Soldaten, flüchtigen Gesetzesverächtern, verlorenen Söhnen, auch manchen Unglücklichen, kurz, echtem Werbevolk, bei dessen Annahme nichts als körperliche Gesundheit, ja – sonst unerhört in Rom – nicht einmal die Religion maßgebend war. Der kleinere Theil bestand aus Schwärmern, gleich mir, und recrutirte sich namentlich aus Frankreich, Belgien und Canada, aber auch Deutschland stellte kein geringes Contingent, das hauptsächlich aus Rheinländern, Westfalen, Baiern und Oesterreichern bestand. Was nun das Gros dieser Truppe betrifft, so blieb es natürlich von den inneren Kämpfen, die mich und viele Gleichdenkende erschütterten, vollkommen verschont. Was kümmerten sich diese Leute um Recht oder Unrecht der Sache, der sie einfach gegen Sold dienten und die sie gegen bessere Bezahlung nächsten Tages mit einer anderen vertauscht hätten! Allerdings befanden sich auch unter ihnen viele, welche die Schändlichkeit der päpstlichen Verwaltung einsahen, und das war erfreulicher Weise namentlich bei den deutschen Abtheilungen der Fall, die deshalb, obgleich sie militärisch wohl die besten waren, für nicht ganz „sicher“ galten und stets zu Gunsten der französischen Zuaven und Legionäre zurückgesetzt wurden. Aber wenn die Infamie, zu der man sie gebrauchen wollte, nicht allzu sehr auf platter Hand lag, so dachten sich die Leute – als echte Söldner – wenig dabei und fühlten sich von den schmählichsten Schergendienste wenig gekränkt.

Welche Gefühle dagegen mich und so Viele, welche mit denselben Illusionen gekommen waren, angesichts der ganzen Zustände und unseres Dienstes insbesondere bewegten, brauche ich wohl kaum zu schildern. Wir hatten uns gefeierte Glaubenshelden zu werden gedünkt, und sahen uns nun als geringgeschätzte und gehaßte Schergen der Tyrannei, ohne den in unserer Verblendung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 665. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_665.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)