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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Ziel zu Fuß zu erstreben; denn dort, drei Stunden von Oberwiesenthal entfernt, wendet sich der Schienenweg über das niedrige Kammplateau und umgeht somit diesen Ort.

Eine echte und gerechte Berg- und Waldluft weht uns an, sobald wir auf dem sogenannten Vierensteig die großen Wiesenthaler Forste betreten haben. Der landschaftliche Wechsel ist nicht reich, die ernste Eintönigkeit des Nadelwaldes wird selten durch eine Lichtung, nie aber durch eine Laubholzgruppe unterbrochen. Eine fortwährend neue Anregung gewähren die Fichten, sofern man in ihrer eigenartigen Zeichensprache ein wenig Studien getrieben. Je höher wir steigen, je verkrümmter sehen wir sie ihre kümmerlichen Jahrestriebe dem kühlen Strahl der Sonne entgegenstrecken, je wehmüthiger die weißgrauen Wetterflechten wie feuchte Thränentücher herabhängen. In den höheren Beständen begegnet man keinem Baum, der nicht eine lange Leidensgeschichte von der Kargheit der Sonne oder von Unglückstagen zu berichten hätte, an denen er durch Schnee, Eisduft und Sturm Ast-, Stamm- und Wipfelbrüche erlitten.

Sobald wir den Fuß des Fichtelbergs erklommen, thut sich eine weite Lichtung auf, und mitteninne, an den Gehängen dieses 1217 Meter hohen Berges liegen die hellschimmernden Häuser des Städtchens eng zusammengeschaart, wie eine frierende Heerde. Gewiß stutzt jeder Beschauer beim ersten Anblick der Stadt; sie zeigt in ihrer Bauart keine Abweichungen, die landschaftlich mitsprechen könnten, und doch sieht sie so ganz anders aus, wie die gleich großen Städtchen im Tieflande. Man betrachtet sie, wie man einen bärtigen Freund, der vom Rasirer kommt, im ersten Augenblicke verwundert ansieht, bis man die Ursache entdeckt. Unserer Stadt fehlt die Umkleidung des Laubwerks vollständig, die den kleinen Tieflandstädten so malerisch zu Gesicht steht.

Beim Eintritte in die Gassen drängen sich uns sofort die starken Mauern der Gebäude in’s Auge. An den Giebelwänden lehnen die Schlitten, die man des lumpigen Bischen Sommers wegen nicht erst unter Dach und Fach bringt. Die Hausthüren sind weit zurück in’s Innere verlegt; Laubwerk, das den Häusern kleinerer Städte so häufig ein behagliches poetisches Ansehen verleiht, ist nicht vorhanden; dafür sind die Fenster von feuchtdunklen Flecken umrahmt, die ihnen das Ansehen verweinter Augen geben. Die Gärtchen neben den Häusern entbehren der Lauben; in geschütztem Winkel fristet hier und da ein jämmerlich verkrüppeltes Obstbäumchen ein absolut fruchtloses Dasein, und die wenigen Ziersträucher erheben ihre obersten Zweige mit rührender Schüchternheit über die Mauerköpfe empor, als traueten sie dem Landfrieden nicht. Auf dem Kirchhofe, der die neue, stattliche Kirche umgiebt, liegt die Pietät im harten Zwiespalte mit der Natur. Die wenigen Rosenstöcke, die zum Blühen gelangen, öffnen ihre Knospen erst im Herbste, und nicht selten schneit’s dann hinein. Keine Spur jener dunklen, ernst stimmenden Lebensbäume der Friedhöfe im Unterlande; die Immergrün- und Sedum-Einfassungen der Gräberreihen ersetzen Moose und Wetterflechten, welche sich von selbst einfinden. Den Kränzen von Preiselbeerlaub, die sinnige Hände den stillen Schläfern auf die wahrhaft „kühle Erde“ niederlegten, sind künstliche Blumen eingefügt; lebendige sieht man selten, und dann sind es solche, die an den Fenstern gezogen werden – Fremdlinge auf der rauhen Gräberstätte.

Im Innern der Häuser zeigen sich die Thüren mit Stroh gepanzert; die Fugen sind mit Tuchstreifen ausgeschlagen; die Fenstergewände umbettet man mit Moospolstern; die Dielen finden sich häufig mit Stroh belegt. Ein bekanntes Schutzmittel, die Winterfenster, fehlen sonderbarer Weise den meisten Häusern gänzlich; wahrscheinlich blickt man zu vertrauensvoll auf die mit architektonischer Accuratesse aufgeschichteten Holzfeimen; auch haben die riesigen Kachelöfen, die sich in den älteren Häusern auf zwei gewaltigen Beinen in die Zimmer hereinschieben, etwas Beruhigendes an sich.

Ein Frühjahr im landläufigen Sinne giebt es für den Wiesenthaler nicht. Wenn der Tiefländer jauchzenden Herzens das Erwachen der Natur verfolgt, dann bessert der Wiesenthaler erst seine Schlittenbahn aus, indem er von den Schneewehen das Material für die dünneren, durchthauten Schneelagen entnimmt. Unsere Frühlingsregen sind für ihn Frühlingsschnee; unsere ersten Staubwirbel sind ihm im günstigsten Falle die letzten wirbelnden Schneeflocken. Kommt es dann zur Schneeschmelze, so schließt sich ihr der Sommer fast unmittelbar an. Die lange zurückgehaltene Keimkraft der Erbe treibt jetzt die Gräser und Saaten wie mit Zauberhänden empor, und urplötzlich steht die Stadt inmitten einer sommerlichen Landschaft.

Ein Sommertag in diesen Höhen hat nun allerdings Reize, die denen im Tiefland nie zu eigen werden. Die Luft ist von einer Klarheit, daß Entfernungen gar nicht mehr taxirbar sind. Die Umrisse, die Wellenlinien des Erdbodens treten mit einer ganz fremdartigen, scharfen Plastik vor den Beschauer, und die Farben, besonders das Grün, erscheinen so intensiv und gesättigt, daß man die Schöpfung in Verdacht haben könnte, sie habe einen Porcellanmaler zu Rathe gezogen. Diese Herren, die bekanntlich ihre Farben mit großer Entschiedenheit auftragen, würden hier das Urbild ihrer landschaftlichen Ideale wiederfinden. Und solcher Sommertage erfreut sich der Wiesenthaler gar nicht selten. Der Grund hiervon mag wohl darin liegen, daß die aufgehenden Wasserdünste erst fern von den Gebirgsstöcken sich zu Wolken zusammenballen.

Die Gewitter entladen sich stets mit einer im Tiefland ganz unbekannten Energie, und in hartnäckiger Ausdauer treiben sie es zuweilen in’s Fabelhafte. Schon ganze Tage lang hingen sie an den Bergen, wenn sie einmal die Wetterscheide des Hochkammes überschritten, und konnten sich nicht wieder besänftigen. Da blitzt es und kracht es unmittelbar über den Dächern stundenlang, indeß die Gewitterwolken durch die Gassen der Stadt dahinjagen wie ein wildes Heer, von Stürmen gepeitscht, zerspellt und zerrissen. Wer Blitz und Donner nicht scheut, kann sich ein gewaltiges Schauspiel mit ansehen, wenn er die Gehänge des Fichtelberges hinaufsteigt; er wird zwar nicht über dem Gewitter stehen, aber die Entladungen geschehen doch zumeist unter ihm, sodaß er in die kochenden und schäumenden Nebelmassen, die den Thalkessel erfüllen, von oben hineinzusehen vermag.

Die wenigen Laubbäume halten sich bis in den todten Herbst hinein grün, auch leider sehr oft das Getreide. Wenn der Tiefländer keltert oder die Obstbäume von ihren Lasten befreit, beginnt der Wiesenthaler erst mit dem Roggenschnitt, sofern eine gütige Herbstsonne die Reife herbeiführte. Im schlimmeren Falle (wie im jüngsten Jahre) muß er Hafer und Korn wohl gar grün verfüttern, wenn es ihm nicht gelingt, die Garben an den Luken seiner Scheuer zu trocknen. Den Kartoffelausnehmern müssen häufig die Schneeschaufler vorangehen. Da giebt’s denn oft eine recht frostige Ernte und nach ihr eine noch frostigere Ackerbestellung, denn der Pflug darf nicht säumen und wenn er sich seine Furchen durch den Schnee bahnen müßte.

Von den absolut trüben Tagen darf man die große Hälfte als Nebeltage bezeichnen, die fast sämmtlich auf den todten Herbst fallen. Diese sterbenskranke Jahreszeit ist zwar Niemandes Freund, aber in Wiesenthal trägt sie ganz absonderlich trübselige Züge. Da hängen oft ganze Wochen lang kalte, feuchte Nebel über der Stadt, von denen der Volksmund sagt, man könne sie in Säcke stopfen; da werfen die Oellaternen ein trauriges, dumpfes Licht in die bleigrauen Wände hinein und flimmern wie Grubenlichter in den Teufen, oder werfen graue Strahlen aus, die sich wie gespensterhafte Windmühlenflügel erst in unermessenen Höhen verlieren; da will es scheinen, als ob die Schläge der Thurmuhr aus unbekannten Regionen herniederdrängen, die den Tag verkünden, der nicht anbrechen will, oder das Scheiden des Tages, den man kaum wahrgenommen.

Sobald mit dem ersten großen Schneefall der Winter eingezogen, ist er auch auf ein gutes halbes Jahr ständig geworden, und damit hat die Jahreszeit begonnen, um die wir Tiefländer den Wiesenthaler trotz aller wilden, unbändigen Launen des gestrengen weißbärtigen Herrn beneiden dürfen. Unsere Winter sind oft nichts als todte Herbste, die mit ihrem Schnee- und Regengemisch dem Germanen, der von Urzeit her seinen soliden Winter gewöhnt ist, besser vom Halse blieben. Freilich habe ich hierbei nur die Natur-Aesthetik im Sinne; wirthschaftlich hat die frostige Tyrannei ihre schweren Gebresten.

Bei ruhiger Luft unterscheidet sich ein obererzgebirgischer Schneefall von einem solchen im Tiefland nur durch seine Ausdauer, und doch ist er ein übel angesehener Gast; bei den Forstleuten bereitet der stille Duckmäuser geradezu Schrecken. Mit heuchlerischer Ruhe streut er blind seine Flocken über die Wälder aus, als wolle er sie liebend bedecken vor Sturm und Unbill, aber er selber ist ein Vernichter der böswilligsten Art. Tief

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