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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

wie gewöhnlich angenommen wird, sondern der Großvater Darwin’s auch als der Großvater der neuen Weltanschauung betrachtet werden. Erasmus Darwin (1731 bis 1802), als Arzt, wie als Dichter zu seiner Zeit hochgefeiert, legte nämlich in einem längern Lehrgedichte, „Der botanische Garten“ betitelt, welches in den Jahren 1781 bis 1790 vollendet wurde, die ersten wirklich begründeten Ahnungen davon dar, daß die heutige Lebewelt, wie unsere Erde selber, durch allmähliche Umänderung und Fortbildung unvollkommner Anfänge entstanden sei. Während Andere dergleichen nur aus philosophischen Gründen vermuthet hatten, wies er mit großem Scharfsinn auf das Vorhandensein unnützer, sogenannter rudimentärer Organe (vergl. „Gartenlaube“ 1875, S. 266) bei verschiedenen Pflanzen und Thieren hin, die ihm als Beweis erschienen, daß diese Wesen früher anders organisirt gewesen seien als jetzt. Nachdem er diese Ansichten in einem seit 1794 erschienenen größeren gelehrten Werke, der „Zoonomia“, weiter fortgebildet hatte, verarbeitete er sie zu einem erst ein Jahr nach seinem Tode (1803) erschienenen Lehrgedichte: „Der Tempel der Natur“, in dem man heute mit Verwunderung eine dichterische Vorausverkündigung der gesammten modernen Naturanschauung findet.

Der ältere Darwin war ein genauer Beobachter der Natur und besaß in hohem Grade die auf den Enkel vererbte geistige Eigenthümlichkeit, bei allen Naturdingen, die er in’s Auge faßte, zu fragen, wie es komme, daß sie seien, wie sie sind: weshalb die meisten Raupen grün seien? woher die Vögel und Fische meist dunklere Rücken und hellere Brüste hätten? warum meist nur die männlichen Thiere besondere Waffen besäßen? wozu die Pechnelke ihren Leimring unter den Blüthen gebrauche? etc. Die nähere Ursache dieser Eigenthümlichkeiten der Färbungen und Organbildungen wußte er überall mit oft großer Feinheit in dem Nutzen, welchen sie den Thieren und Pflanzen gewähren, aufzuspüren, die entferntere Ursache aber blieb ihm verborgen, und daher muß seine Weltanschauung eben nur wie eine dichterische Vorahnung, nicht als ein festes Lehrgebäude betrachtet werden. Eine ganz ähnliche Voraussicht finden wir bei dem deutschen Dichterfürsten Goethe, der zwar in weniger festen Umrissen, als sein englischer Zeitgenosse, aber der Richtung nach ebenso sicher und entschieden die Darwin’sche Weltanschauung voraussah und im Sehnen nach derselben seine höchste Befriedigung fand. Es ist eben die schöpferische Thätigkeit wahrer Dichter, welche sich im Aufbauen künftiger Welten und Weltanschauungen bewährt und ihnen als Propheten der moralischen Weltordnung oft so glückliche Treffer verleiht.

Wie man nicht selten Gaben anderer Art, z. B. musikalische und zeichnerische Talente, in den Familien forterben sieht, so scheint nun in unserem Falle das seltenere Beispiel einer Vererbung des eigenthümlichen Scharfsinns in der Beobachtungsgabe vom Großvater auf den Enkel eingetreten zu sein, der am 12. Februar 1809 dem Arzte Robert Darwin zu Shrewsbury geboren wurde. Aus seiner früheren Jugend wissen wir wenig mehr, als daß er ein großer Jagdliebhaber und Naturaliensammler war und in der Beobachtung des Naturlebens früh die liebste Unterhaltung fand. Er bezog 1825, wie früher auch der Großvater, die Universität Edinburg und 1827 das Christ-College zu Cambridge, schloß sich dort im Besonderen dem Botaniker Henslow an und erwarb, kaum zweiundzwanzig Jahre alt, den ersten akademischen Grad, dem im vergangenen Jahre in feierlicher Sitzung der Ehrendoctor gefolgt ist. Sehr wahrscheinlich würde ihn sein den gesammten Naturwissenschaften gewidmetes Studium auf die gewöhnliche Laufbahn eines Universitätslehrers geführt haben, wenn nicht Alexander von Humboldt’s Naturschilderungen aus fernen Zonen, die er mit Begeisterung las, den unbezwinglichen Wunsch in ihm erweckt hätten, das überreiche Naturleben der Tropen selbst zu schauen, die Natur in ihrer unentweihten Ursprünglichkeit zu belauschen.

Natürlich folgte er ohne Besinnen der ersten sich darbietenden Gelegenheit, diesen Drang zu befriedigen, und diese Gelegenheit war günstig genug. Im Jahre 1831 wurde nämlich der spätere Gouverneur von Neu-Seeland und Begründer der Wettertelegraphie Capitain Robert Fitzroy von der englischen Regierung zu hydrographischen Aufnahmen nach Südamerika und der Südsee entsandt und ihm auf seinen Wunsch, einen Naturforscher am Bord zu haben, der frisch vom College kommende junge Darwin beigegeben. Am 27. December 1831 trat Capitain Fitzroy mit seinem Stabe auf einer Brigg von zehn Kanonen, die prophetisch den Namen „Spurfinder“ (Beagle) erhalten hatte, jene nahezu fünfjährige wissenschaftliche Reise um die Welt an, welche so große Ergebnisse liefern sollte.

Es war wohl ein großes Glück für ihn und uns, daß der junge Darwin hinaus in die freie Natur kam und sie in ihrer Ursprünglichkeit, in ihrer großartigen Wildheit studiren durfte, denn ohne dies, so müssen wir befürchten, würde er nicht der Reformator der Biologie, das heißt der Wissenschaft vom Leben geworden sein. Gerade der Fleiß nämlich, mit dem er nun alle Gebiete der Natur studirte und überall in’s Einzelne ging, hätte ihn nothwendig von jener großartigen Richtung des Großvaters auf das Ganze abziehen und in die Bahnen des sogenannten „exacten“, das heißt strengen Studiums führen müssen, welches damals dictatorisch von der Lehre des großen Cuvier beherrscht wurde, daß alle Arten von Pflanzen- und Thiergeschlechtern sich unveränderlich in der Natur erhielten, wie sie vordem geschaffen worden seien. Das also war auch Darwin’s feste Ueberzeugung, als er auszog, die Natur in ihren Heimstätten zu belauschen, und wir können sicher sein, daß er damals, wenn auch mit Pietät vor dem Dichtergenie, so doch mit Kopfschütteln die Werke seines Großvaters gelesen haben wird.

Sein Tagebuch aus jener Zeit, welches er später unter dem Titel: „Reise eines Naturforschers um die Welt“ herausgab und welches hoch über die gewöhnliche Spreuliteratur der Reisenden hinausragt, enthält einzelne unverkennbar satirische Bemerkungen gegen Lamarck, seinen berühmten Vorgänger, der die Ideen seines Großvaters weiter ausgeführt hatte, und zahlreiche Anklänge an den Bibelglauben Cuvier’s. Don Carlos, wie die Spanier Südamerikas den jungen Naturforscher mit Vorliebe nannten, war mit einem Worte allem unbestimmten Theoretisiren abhold, und Alles, was er von den eigenen Forschungen hoffte, war, um seine eigenen Worte von damals zu gebrauchen: etwas dazu beizutragen, um „den großen, der Jetztzeit und der Vergangenheit gemeinsamen Plan zu enthüllen, nach welchem die organischen Wesen erschaffen worden sind.“

Aber die treue und hingebungsvolle Beobachtung der Natur führte ihn langsam und fast wider Willen zu dem Naturgemälde des Großvaters zurück. Wenn er, mit dem geologischen Hammer in der Hand, auf weiten Ausflügen in das Innere die Schichtenbildungen Südamerikas untersuchte – zum grenzenlosen Staunen der Einwohner, die in ihrer Bigotterie diese Bemühungen theils für närrisch, theils für gottlos hielten, „weil es zu wissen genüge, daß Gott die Berge so gemacht habe, wie sie dastehen“ – so konnte er bald nicht umhin, bei der Vergleichung der eingeschlossenen Thierreste mit den jetzigen Thieren des Landes auf besondere und andere Gedanken zu kommen, als eben diese Bergleute, die, mit vielen europäischen Gelehrten früherer Zeit, die Fossilien für in diesem steinernen Zustande „von der Natur geboren“ ansahen. Aus einer verhältnißmäßig sehr jungen Schicht, dem Pampasschlamm Patagoniens, grub er die Reste einer Anzahl ausgestorbener Thiere aus, die mit wenigen Ausnahmen noch jetzt in Nord- und Südamerika lebende Vertreter haben, aber nirgend sonstwo in der Welt. Sind auch die heute daselbst lebenden Gürtel- und Faulthiere nur Zwerge gegen die von Darwin ausgegrabenen Riesenthiere der jüngsten Vorzeit und nicht mehr völlig gleich gebaut, so sprang doch die enge Verwandtschaft unmittelbar in’s Auge. „Diese wunderbare Verwandtschaft zwischen den todten und lebenden Thieren eines und desselben Continents,“ schrieb er damals in sein Tagebuch, „wird unzweifelhaft noch später mehr Licht auf das Erscheinen organischer Wesen auf unserer Erde, sowie auf ihr Verschwinden von derselben werfen, als irgend eine andere Classe von Thatsachen.“

Was dieses Verschwinden und Verdrängtwerden von Thieren und Pflanzen durch andere oder durch widrige klimatische Verhältnisse betrifft, so konnte er an Ort und Stelle die besten Erfahrungen darüber sammeln. Noch war frisch in Aller Gedächtniß die große Dürre der Jahre 1827 bis 1833 mit ihren verhängnißvollen Folgen für das gesammte Thierleben. Man erzählte ihm, wie die dem Verhungern und Verdürsten nahen Rinder zu Tausenden in die Moräste und in den Paranafluß gestürzt und dort ertrunken seien, da sie aus Erschöpfung meist nicht mehr im Stande waren, die schlammigen Ufer wieder heraufzukriechen. Augenzeugen berichteten von dem Beieinanderliegen Tausender von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_114.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)