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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


sie unversehens unter die fixen Ideen. Das Gedicht tönt schrill aus, während es ohne Schaden für die Intentionen des Dichters wohlthuend und mild hätte verklingen können und dann erst recht ein Hoheslied der Humanität gewesen wäre.

Dieser Fehler, vielleicht durch die körperlichen Nöthe des Dichters verschuldet, wiegt mir schwerer, als alle formalen Ausstellungen, obgleich ich den letzteren keineswegs ihre Berechtigung abstreite. Er macht, daß eine Dissonanz entsteht, wo man einen harmonischen Abschluß erwartete. Der Dichter ist nicht gehalten, Systeme zu gründen, derer Daseinsbedingung die Folgerichtigkeit ist; auch scheint es nicht, daß die Vererbung der Schwindsucht hinreicht, um unverdientes Menschenschicksal zu motiviren und die Freiheit des Poeten zu schmälern.

Es ist ein reizendes Fleckchen Erde, auf dem Redwitz sein Heim hat. Milde Lüfte wehen aus Wälschland herüber, und schützend vor dem rauhen Hauche des Nordens stehen die Riesenhäupter der Alpen. Aber es ist auch ein trauriges Fleckchen Erde, denn jahraus jahrein dient es jenen hoffnungslosen Menschenkindern zum Aufenthalte, denen an ihren kranken Lungen der Todeswurm nagt. Meran ist die Zuflucht der Schwindsüchtigen aus aller Herren Ländern. Daraus erklärt sich vielleicht der triste Schluß in dem neuesten Gedichte Oscar von Redwitz’. Er beeinträchtigt die Thatsache, daß „Odilo“ ein Triumph zeitgenössischer Poesie, aber er hebt sie nicht auf. Und wenn es wahr ist, daß sich selbst zu besiegen der größte Sieg sei, so gebührt dem „bekehrten Poeten“ ein doppelter Lorbeerkranz, der eine für seinen endgültigen Bruch mit seiner dichterischen Vergangenheit, der andere für die siegreiche Probe, mit der er sich eingereiht hat in die Zahl derer, welche als wahre Humanitätsapostel von ihren Zeitgenossen verehrt werden.

Wilhelm Goldbaum.




Der Altvätertag der Union.

Es giebt Tage, welche durch Ereignisse ausgezeichnet sind, die ihnen für alle Zeit eine welthistorische Bedeutung sichern und sie niemals dem Gedächtnisse denkender Menschen entschwinden lassen. Zu diesen Tagen zählt auch der 22. December, der Tag, an welchem vor länger als zwei und einem halben Jahrhundert die sogenannten „Pilgrime“ oder „Pilgerväter“ mit Spaten und Handwerkzeug, mit Bibel und Schwert zugleich an der Küste von Massachusetts landeten und ein Gemeinwesen gründeten, aus dessen Weiterentwickelung dereinst die mächtige Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika hervorgehen sollte. Die Geschichte dieser puritanischen Pilgerväter, ihre gehässige Verfolgung in England, ihre Flucht nach Holland und ihre Verzweiflungsfahrt über den atlantischen Ocean wird in Verbindung mit den in der Neuen Welt von ihnen erlebten, an’s Sagenhafte grenzenden Abenteuern nicht nur für Dichter, namentlich amerikanische Dichter, die sich nach einem nationalen Hintergrunde umsehen, eine reiche Fundgrube bilden, sondern auch für Alle, welche tiefgreifende politisch-religiöse Begebenheiten zu würdigen verstehen, stets von dem höchsten Interesse sein. Die früheren englischen Niederlassungen in Amerika waren vorzugsweise von einzelnen Unternehmern oder Handelsgesellschaften zu keinem höheren Zwecke versucht worden, als dem der Erwerbung von Reichthümern; sie waren daher auch meistens mißlungen. Ein günstigerer Erfolg wurde erst erzielt, als bessere und edlere Männer aus uneigennützigeren und idealeren Beweggründen sich zu Ansiedelungen jenseit des Oceans entschlossen. Diese Männer kamen mit ihren Familien nach Neu-England und zwar zu einem dauernden Verbleiben daselbst, nicht sowohl um der Verbesserung ihrer zeitlichen Glücksumstände willen, als vielmehr wegen des ungestörten Genusses bürgerlicher und religiöser Freiheit, die ihnen in der alten Heimath verweigert wurde.

Schon die Königin Elisabeth hatte die Puritaner nicht geliebt, weil sie ahnte, daß die von jenen erstrebte religiöse Unabhängigkeit nicht wohl von der politischen Freiheit zu trennen sei; das hinderte indeß die Puritaner nicht, die „Queen Bess“, wie der Volksmund die Königin getauft hatte, hoch in Ehren zu halten, vorzugsweise, weil sie die Uebergriffe des römischen Papstthums bekämpfte und die nationale Macht Englands förderte. Selbst in Fesseln beteten die Puritaner in vollster Aufrichtigkeit, daß das Leben der sie mit den strengsten Strafen heimsuchenden Elisabeth bewahrt bleiben möge vor den Dolchen der papistischen Meuchelmörder. Ganz anders wurde dies unter der Regierung Jacob’s des Ersten. Das englische Volk und namentlich die puritanischen Secten bemerkten gar bald den Unterschied zwischen ihm und seiner Vorgängerin auf dem Throne. „Während diese,“ wie Leopold von Ranke sagt, „nur immer von der Liebe ihrer Unterthanen gesprochen hatte, redete Jacob unaufhörlich von dem Gehorsam, welchen man ihm nach göttlichem und menschlichem Rechte schuldig sei.“ Dazu kam noch, daß Elisabeth eine Vorliebe hatte für tapfere Männer und ausgezeichnete, kühne Charaktere, Jacob aber sich vor Männern von Geist und Thatkraft fürchtete und nur solchen sein Vertrauen schenkte, die er durch Begünstigungen aller Art, durch Geschenke und Wohlthaten an sich gefesselt wähnte. Seinem Grundsatz: „Kein Bischof, kein König!“ getreu, glaubte er in der bischöflichen Kirche Englands das einzige Bollwerk zu finden gegen die Jesuiten, die er fürchtete, und gegen die Puritaner, die er haßte. Im Vertrauen auf seine „Herrscherkunst“ betrachtete er, gleich den Fürsten des dreizehnten Jahrhunderts, sein Königthum als eine Anweisung auf Vorrechte und Vortheile und hielt es für sein gutes Recht, seine Günstlinge und Diener daran Antheil nehmen zu lassen.

Die Puritaner standen zur Zeit von Jacob’s des Ersten Regierung an Kopfzahl weit hinter ihren religiösen und politischen Gegnern zurück; sie überragten dieselben jedoch an jener sittlichen Kraft, die freiheitsliebenden und überzeugungstreuen Menschen eigen zu sein pflegt. Sie erklärten kühnlich das Recht des eigenen Urtheils in Glaubenssachen für unveräußerlich und behaupteten: jedes menschliche Wesen sei des natürlichen Vorrechtes theilhaftig, den Schöpfer aller Dinge im Einverständniß mit den Weisungen seines eigenen Gewissens zu verehren und anzubeten. In Uebereinstimmung mit diesen Grundsätzen machten sie auch, im Parlamente und im Privatleben, das Recht des Volkes auf den Genuß der bürgerlichen Freiheit geltend. Die Kanzeln der Puritaner waren die Rednerbühnen des Bürgerstandes und der gemeinen Leuten und ihre Prediger erkühnten sich bisweilen sogar, die dem königlichen Vorrechte so gefährliche Lehre zu verkündigen, daß der Souverain für seine Handlungen der Volksvertretung verantwortlich sei und der richtig und gesetzlich zum Ausdruck gelangten öffentlichen Meinung nachgeben müsse. So konnte es denn kaum anders kommen, als daß der stolze, auf seine in geistlichen und weltlichen Dingen absolute Machtvollkommenheit so eingebildete Jacob mit den Puritanern bald in den heftigsten Streit gerieth und ihnen endlich zurief: „Ich will Euch entweder zur Unterwürfigkeit zwingen oder zum Lande hinausjagen.“ Hunderte von puritanischen Geistlichen wurden zum Schweigen verurtheilt oder in das Gefängniß geworfen, und viele Tausende von calvinistischen Nonconformisten, das heißt solchen, die mit den aus der römisch-katholischen Kirche in die englische Episkopalkirche herübergenommenen Aeußerlichkeiten, Satzungen und Ceremonien nicht einverstanden waren, fühlten sich gedrungen, England zu verlassen und in fremden Ländern eine Zuflucht zu suchen.

Vor Allem war es Holland, wohin die um ihres Glaubens willen verfolgten Puritaner ihre Schritte lenkten. Zu ihnen gehörte auch die besonders radicale Secte der Brownisten oder Separatistea, die sich mit ihrem Prediger John Robinson um’s Jahr 1610 in Leyden niederließ; das angesehenste weltliche Mitglied war ein gewisser William Brewster, früher ein Schützling von Davidson, dem Geheimschreiber der Königin Elisabeth. Eine Zeit lang fühlten sich die Auswanderer in Holland glücklich und zufrieden und erwarben sich auch die Liebe und Hochachtung der Holländer. Auf die Dauer wollte ihnen jedoch das Leben unter dem fremden Volke nicht gefallen; sie mochten ihre englische Sprache und Nationalität nicht aufgeben und hingen überhaupt, trotz der erlittenen Verfolgungen, mit unwandelbarer Liebe an ihrem alten Vaterlande. Da indeß eine Rückkehr dorthin nicht rathsam war, so faßten sie eine Auswanderung nach Amerika in’s Auge, um sich dort unter englischem Schutze eine neue Heimath zu gründen. Nach reiflicher Erwägung der Licht- und Schattenseiten dieses

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_847.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)