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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


gezwungen war, beständig mit ihm zu verkehren, und muß gestehen, daß mir der Mann ganz dazu geschaffen schien, ein Volk für irgend eine Sache zu begeistern, ja zu fanatisiren. Von seltener Körpergröße und Hagerkeit, verräth seine Gestalt eine enorme Muskelkraft. Als Beweis seiner merkwürdigen Zähigkeit mag es gelten, daß er mit seiner schweren Wunde am linken Fuße ohne Hülfe und Verband fünfzig Tage lang existiren konnte und dabei nicht zu Grunde ging, ja, daß er bei alledem nichts von seiner Geistesfrische eingebüßt zu haben scheint. Sein Gesicht zeigt viel Intelligenz, und wie alle Orientalen begleitet er seine Reden mit überaus lebhaftem Mienenspiele. Seine großen, hellblauen Augen sind im Ausdruck bald milde wie die eines Kindes, bald blitzen sie in unheimlichem Feuer auf. Er gebietet über ein seltenes Rednertalent und über ein ungewöhnlich starkes Gedächtniß - den Koran weiß er von der ersten bis zur letzten Seite auswendig.

Auf das Höchste erstaunt und erfreut war er über die menschliche Behandlung, die ihm von unserer Seite zu Theil wurde. Er hatte in dem verhängnißvollen Irrthum gelebt, daß wir, gleich den Insurgenten selbst, überhaupt keine Gefangenen machen, sondern Alles, was uns in die Hände fällt, ohne Weiteres niedermetzeln. Ueberhaupt haben die Irrthümer und falschen Anschauungen dieses Mannes uns sehr viel Blut gekostet, und er selbst sagt, daß wohl Manches anders gekommen wäre, wenn er und seine Landsleute uns früher so gekannt hätten wie jetzt. Ergriffen von der humanen Behandlung, bot er sein Leben als Sühne an; man solle ihn, sagte er, als den Urheber und Irreleiter, jede Strafe, die man nur wolle, erdulden lassen, dabei aber bat er zugleich um Schonung für seine Glaubens- und Leidensgenossen.

Nach Aussage der Aerzte hätte eine Amputation des Fußes bald nach der Verwundung ihn noch retten können, aber jetzt wäre auch dieses Mittel so gut wie hoffnungslos, und zum Ueberflusse weigert er sich auch mit aller Entschiedenheit, die Amputation an sich vornehmen zu lassen. Nach seiner Angabe hat er sich den Schuß am Tage vor der Einnahme von Serajewo durch eigene Unvorsichtigkeit, als er von einem Minaret herabeilte, selbst beigebracht. Durch vierzig Tage nahm er keinen Tropfen Wasser zu sich, weil man ihm sagte, daß der Genuß desselben seiner Wunde schaden könne. Man kann sich demnach vorstellen, wie sehr seine Constitution herabgekommen war. Seine Nahrung ist auch dermalen eine sehr bescheidene; er begnügt sich mit etwas Kaffee, Zwetschen, Brod und Käse. Geistige Getränke berührt er als strenggläubiger Türke nicht, und seine Gebete verrichtet er trotz der enormsten Schmerzen auf das Gewissenhafteste. Sehr schwer war es, ihn zu bewegen, sich portraitiren zu lassen, da auch dies gegen den Koran verstößt. Nur die Dankbarkeit für die ihm gewidmete Theilnahme und Fürsorge bestimmte ihn schließlich doch nachzugeben; seine Unterschrift setzte er selbst ohne vieles Zureden unter sein Bild. Erwähnt sei, daß er nach seiner bestimmten Aussage vorher noch niemals portraitirt worden ist und daß demnach alle von ihm früher erschienenen Zeichnungen reine Phantasiegebilde waren. Anzunehmen ist jedoch, daß nun, nachdem einmal seine Scheu überwunden ist, er noch oft abconterfeit werden dürfte.

Bis das beifolgende Bild veröffentlicht sein wird, dürfte die Aussage der Aerzte sich erfüllen und Hadschi Loja nicht mehr unter den Lebenden sein. Jedenfalls wird ein von der Natur selten begabter Mensch mit ihm zu Grunde gegangen sein, der unter anderen Verhältnissen vielleicht der menschlichen Gesellschaft von bedeutendem Nutzen hätte werden können.

Rogatica, den 6. October 1878.

F.F.

Es bedarf von unserer Seite kaum erst der Bemerkung, daß die Erwartung eines baldigen natürlichen Todes Hadschi Loja’s, welche unser Gewährsmann so bestimmt ausspricht, sich nicht erfüllt hat, daß der Insurgentenhäuptling im Gegentheil alle Aussicht hat, auch dem drohenden gewaltsamen Tode der Execution durch kaiserliche Gnade zu entgehen. Was die Facsimile-Unterschrift anlangt, so enthält sie (von rechts nach links gelesen) die drei Wörter Hadschi, Loja und Hafis. Zur Aufklärung verdient gesagt zu werden, daß nur „Loja“ Personenname ist, während „Hadschi“ den Mekkapilger, „Hafis“ den Gelehrten bezeichnet, welcher den gesammten Koran im Gedächtniß hat.




Die Tramps.
Eine neue Landplage der Vereinigten Staaten.

Die Vereinigten Staaten sind zu verschiedenen Malen von verheerenden Landplagen heimgesucht worden. Die Heuschrecken vernichteten in manchen Jahren die Hoffnung Tausender von fleißigen Farmern; der berüchtigte Coloradokäfer drohte der Kartoffel den Untergang; gelbes Fieber und Indianermetzeleien sind periodisch wiederkehrende, wie es scheint unvermeidliche Uebel, an die man sich nachgerade gewöhnt hat. Die schlimmste und gefährlichste aller bisherigen Heimsuchungen haben indeß erst die letzten Jahre entwickelt: die Landplage der „Tramps", der modernen Zigeuner Nordamerikas. Ja, noch schlimmer als die alten Zigeuner sind sie, diese neumodischen Tramps. Das Zigeunerwesen war doch noch wenigstens mit einer Art von poetischem Nimbus umgeben; das wild geheimnißvolle Treiben der braunen Vagabunden hatte noch eine romantische Seite, sodaß selbst der Dichter es nicht verschmähte, sie in das Gebiet seiner Phantasie zu ziehen. Aber dieser neuesten amerikanischen Auflage des Zigeunerunwesens fehlt auch jede Spur von Romantik; sie ist jeglichen poetischen Schmuckes vollständig baar; sie ist die gemeinste und gefährlichste Erscheinung des rohesten Vagabonden- und Verbrecherthums.

Die Tramps als allgemeine Landplage sind noch nicht viele Jahre alt. Landstreicher hat es selbstverständlich hier, wie überall, zu allen Zeiten gegeben, daß sie aber zu Tausenden von kleineren und größeren Banden anschwellen würden, die das Land stellenweise förmlich überschwemmen, ihren Weg mit Raub, Mord und Brand bezeichnen und Leben und Eigenthum der Bürger bedrohen würden, das hätte man kaum für möglich gehalten in einem Lande, dessen Verhältnisse es Jedem erlauben zu leben, ohne seinem Nachbar beschwerlich zu fallen. Und doch ist es in kurzer Zeit dahin gekommen: die Tramps sind im Verlauf einiger Jahre zu einem socialen Uebel herangewachsen, zu dessen Ausrottung die gewöhnlichen Mittel der Staatsgewalt nicht mehr auszureichen scheinen.

Die Geschichte ihrer Entstehung ist eine sehr einfache. Der Druck, der seit 1873 auf allen Geschäften lag, das Stillstehen der meisten Fabriken und die daraus folgende Arbeitslosigkeit Tausender, namentlich in den größeren Städten, erzeugte einen Nothstand unter der Arbeiterbevölkerung, der von Jahr zu Jahr sich steigerte. Nicht wenige dieser Leute suchten sich ehrlich durchzuschlagen, indem sie Arbeit annahmen, wo sie solche fanden, auch wenn sie nur kümmerlichen Verdienst abwarf; andere trieb die Noth in’s Verbrecherleben der größeren Städte hinein; ein großer Theil beschloß anderswo sein Heil zu versuchen und begab sich auf die Wanderung. So begannen diese Wanderzüge, meist in westlicher Richtung; sie wurden ursprünglich keineswegs nur von Vagabonden unternommen, sondern zum großen Theil von ehrlichen Arbeitern, die Verdienst und Brod auf dem Lande suchen wollten, namentlich in der Erntezeit, in der es den Farmern häufig an Arbeitskräften fehlt, um die schnell reifende Ernte einzubringen. Sie führten deshalb anfangs häufig den Namen: „harvesters" (Ernte-Arbeiter). Die Bezeichnung: „tramp“ (Vagabond) trat aber sehr bald an dessen Stelle.

Wie Alles hier zu Lande sich schnell zu entwickeln pflegt, so auch diese Bewegung. Ein Gährungs- und Scheideproceß trat bald ein. Die besseren Elemente suchten und fanden Arbeit und Brod und in manchen Fällen wohl auch eine Heimath, aber die Hefe blieb zurück und ging bald in totale moralische Fäulniß über. Waren diese Menschen schon vorher arbeitsscheu gewesen, so machte sie das anhaltende Vagabondiren zu ausgesprochenen Feinden jeglicher Arbeit, zu faulen, nichtswürdigen Strolchen, die schnell auf der niedrigsten Stufe moralischer Verkommenheit anlangten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_790.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)