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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

ersehnten Zielen und bereitete zunächst in der Welt der Gedanken und Sitten den Umschwung vor, den nach einer Reihe von Jahren das staatliche Leben erfahren sollte. „Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit des Gewissens, Natürlichkeit in der Kunst“, so lauteten die Rufe, welche fortan in Frankreich und von dort aus die Parolen des Tages wurden.

Um sich zu überzeugen, daß dies Alles kein Hirngespinnst, sondern in der Wirklichkeit herzustellen sei, brauchte man nur nach England zu blicken, und Voltaire war es, der diesen Einblick durch Vorführung und Vergleichung unwiderleglicher Thatsachen ermöglicht hatte. Dadurch hat er dem schwankenden Ringen nach Erlösung aus fluchwürdigen Banden einen starken positiven Halt gegeben und den Grundsätzen des demokratisch-constitutionellen Systems eine Anerkennung verschafft, die einen merkbaren Eindruck auf die leitenden Gedanken des Völkerlebens erlangte. Wenn es heute z. B. sprüchwörtlich geworden, daß das constitutionelle System die Nothwendigkeit der Republik mit der Nützlichkeit der Monarchie verbindet, so muß daran erinnert werden, daß es Voltaire war, der diese Anschauung zuerst in seinen englischen Briefen mit gemeinverständlichem Nachdruck erörtert hat.

Sehr richtig werden von Rosenkranz diese englischen Briefe als der Mittelpunkt im Wirken und Leben Voltaire’s bezeichnet. Zugleich aber bildet dieses Werk den eigentlichen Anfangspunkt jener riesigen Thätigkeit, durch welche er in der ganzen, mit der Rückkehr aus England beginnenden Periode seiner Mannesjahre die Welt in Erstaunen setzte. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, das ganze Heer der Voltaire’schen Schriften, oder auch nur seine Hauptwerke aufzuführen. Viele derselben werden immer ein hochinteressantes Studium, eine reizvolle und anregende Lectüre bleiben, wenn man sie eben mit dem Bewußtsein liest, daß sie nicht für unsere Gegenwart geschrieben sind, sondern einer ungemein bedeutsamen Vorstufe derselben angehören. Unabweisbar wichtig jedoch ist es für jeden Gebildeten, sich eine Rechenschaft geben zu können über die treibenden Beweggründe und das in der Zukunft der Menschheit lebendig gewordene Gesammtergebniß dieses so buntfarbig sich entfaltenden Wirkens. Weit entfernt sind wir, Voltaire als den Einzigen hinstellen zu wollen, der mit dem Zauber des Gedankens die Macht brutaler Knechtung gebrochen und das neue Zeitalter heraufgeführt hat. Es ist wahr, daß er nicht zu den Genien ersten Ranges gehörte, und nicht zu den Entdeckern neuer Principien, deren sein Zeitalter verschiedene aufzuweisen hat. Aber er war der gewaltigste und eingreifendste aller schriftstellerischen Agitatoren, die jemals vor oder nach ihm gelebt haben, ein großer Publicist auf eigene Hand und kraft eigener Machtvollkommenheit, der die anderweitig schon gefundenen freien Grundsätze volksthümlich machte und das offen auf den Markt des Tages zog, was man bisher in vereinzelten Oppositionskreisen nur als eine Geheimlehre bewahrt und nur mit leiser Aengstlichkeit sich zugeflüstert hatte. Ganz besonders ausgerüstet zu diesem Berufe war er nicht blos durch eine wunderbare Vielseitigkeit der Begabungen, durch ausgebreitetes Wissen und ungewöhnliche Arbeitskraft, sondern auch durch einen jedenfalls von der Natur ihm gegebenen leicht zu hoher Entflammung auflodernden Zorn gegen alle Bedrückung und Ungerechtigkeit. Dazu aber kam noch ein Anderes als besonderste Eigenthümlichkeit seiner Individualität: jene Gabe funkelnder und sprühender Verstandesschärfe, welche die Franzosen „Esprit“ nennen, und deren blitzartig herniederfahrende Schneidigkeit sich in ihm mit leicht beschwingter Grazie des Ausdrucks und der Schlagkraft eines Witzes verband, wie er in solcher Fülle und Ausgiebigkeit kaum jemals einem Sterblicher verliehen war.

Mag es immerhin eine oberflächliche Behauptung sein, daß er nur ein Spötter gewesen – gut zwei Drittheilen seiner Schriften fehlt in der That alles Satirische – so läßt sich doch nicht bestreiten, daß jenes verminende und zersetzende, aus Angriff und Spott gerichtete Verstandeswesen die ihn vorwiegend beherrschende Kraft war. Es war aber Temperament und Leidenschaft, es brannte ein unverwüstliches Feuer sittlichen Dranges in diesem Verstande, und gerade eines solchen Geistes bedurfte die dumpfe und stumpfe Zeit, um aus dem Schlendrian ihres unerträglichen und doch unterwürfig ertragenen Elends zum Denken und zur Thatkraft erweckt zu werden. Zu diesem Zwecke bewegte er sich fortwährend gleichzeitig auf den verschiedensten Gebieten, sodaß es vollständig gerechtfertigt ist, wenn Hettner von ihm gesagt hat, es gäbe kaum irgend eine Frage menschlicher Bildung, die Voltaire nicht einmal berührt, keine Form dichterischer oder wissenschaftlicher Darstellung, die er nicht mit Erfolg und meist sehr glücklichem Geschick angewendet hätte. Neben der beträchtlichen Reihe seiner Dramen, die aus allen Theatern mit Beifall dargestellt wurden, neben der kaum übersehbaren Zahl von Gedichten, Flugschriften und philosophischen Abhandlungen, die er fort und fort wirkungsvoll in die gährenden Streitigkeiten des Tages warf, glänzen hervorragende Geschichtswerke, gelehrte Encyclopädien und Wörterbücher von erheblichstem Umfang. Und dies Alles, so verschieden es auch war, diente doch immer nur einer und derselben Absicht: dem mit wachsamer Unermüdlichkeit geführten Kampfe für die Humanität, für das verschollene, verschüttete und zertretene Menschenrecht, für die ungehinderte Aussaat einer Bildung und Aufklärung, aus welcher der unterjochten Menschheit durch immer hellere Erkenntniß auch die rechte Freiheit erblühen sollte. Wie er auf dem Felde der Poesie nur Lehr- und Tendenzdichter war, so leuchtete diese auf das Praktische gerichtete Spitze noch viel unverkennbarer aus der Glanzesfülle, dem Stoff- und Gedankenreichthum seines prosaischen und wissenschaftlichen Schaffens hervor. Und wie sehr und mit welchem Rechte man auch oft die Weise seines Auftretens tadeln und verwerflich finden muß, so steht doch fest, daß der mit unangenehmen Charakterfehlern behaftete Mann mehr als irgend ein anderer seiner Mitstreiter für die Heraufführung jener neu am Horizont der Weltgeschichte erscheinenden Großmacht gethan hat, die seitdem als „öffentliche Meinung“, als Richterspruch der Volksstimme einen so unwiderstehlichen Einfluß auf den Gang der Völkergeschicke übt. Seine Wirkung auf das Zeitalter läßt sich schon aus der beispiellosen Verbreitung seiner Schriften und aus der jubelnden Zustimmung erkennen, mit welcher die erwachten Freiheitsregungen weithin jedes neue Erzeugniß seiner Feder begrüßten.

Ein erschöpfendes Bild der Thätigkeiten Voltaire’s nach allen speciellen Richtungen hin ist nur durch ein umfassendes Studium zu erlangen. Die erwähnten unvergänglichen Kernpunkte seines Wirkens dagegen können ohne viele Schwierigkeit in einigen Sätzen dargelegt werden. In seiner Stellung zur Religion hielt Voltaire unerschütterlich den Glauben an einen persönlichen Gott oder vielmehr Weltschöpfer fest und vertheidigte diesen Glauben mit beredter Innigkeit gegen die jüngere Schale atheistisch-materialistischer Philosophen. Ebenso überzeugt war er von der Unsterblichkeit der Seele, wenn ihm auch die Art derselben ein unentschiedenes Problem blieb. Alle sonstigen Glaubensvorstellungen der positiven Religion aber erschienen seiner Prüfung als schädliche Phantasterei und verderblicher Aberglaube, der gestürzt und getilgt werden müsse. Niemals hat das aller unabhängigen Bildung sich entgegenstemmende, alles vernünftige Denken unterjochende und verscheuchende Kirchendogma, niemals der Wunderglaube und die Lehre von der göttlichen Abfassung der biblischen Bücher (Inspiration), niemals der priesterliche Machtanspruch und namentlich die Herrschaft des römischen Priesterthums einen erbitterteren und grimmigeren, einen ausdauernderen, consequenteren und gefährlicheren Feind gehabt, als diesen großen Schriftsteller, der schon im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts den ersten Ansturm gegen jene damals noch gänzlich unerschütterte Veste des Wahns eröffnet hatte. Wo er auf diese Punkte kam – sie bilden das Hauptthema vieler seiner Schriften und werden fast in jeder derselben berührt – da führte er nicht blos das Geschütz seiner philosophischen Kritik in’s Feld, da konnte er auch all seinem Hasse, allen giftigen Hohn seines boshaften Witzes die Zügel schießen lassen, da konnte er selber zelotisch, ungerecht und unduldsam werden bis zur Frevelhaftigkeit. Wir geben gern zu, daß vielen Wendungen dieser Angriffe durch eine unbefangenere Prüfung der betreffenden Erscheinungen ihre Spitze abgebrochen ist, aber sicher bleibt es, daß Sie durch die Maßlosigkeiten eines ungeheuerlichen Druckes hervorgerufen waren und daß gerade diese Form aufstachelnden Widerspruchs in jenen Tagen die einzig wirksame und nothwendige war.

Und wenn man nach dieser Seite hin den ganzen Standpunkt Voltaire’s preisgeben wollte, was notorisch unrichtig wäre, da er menschlich Vieles ausgesprochen hat, was sich heut noch als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 382. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_382.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)