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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

gescheut, und auch diesem wäre ich unbewegt entgegengetreten, aber daß Du, Du im Einverständnisse warst, daß Du mich verriethest, das hat meinen Feinden den Triumph verschafft, mich auch einmal – fassungslos zu sehen.“

Seine Stimme schwankte bei den letzten Worten. Mitten durch den Zorn und Haß des Mannes, der sich in seiner Ehre, wie in seiner Liebe gleich tödtlich verletzt sah, brach es wie ein heißer Schmerz, und der Ton ließ Gabriele alles Andere vergessen. Sie flog auf den Freiherrn zu, legte beide Hände auf seinen Arm und wollte sprechen, bitten, aber es war umsonst – mit einer wilden Bewegung rang er sich von ihr los und stieß sie zurück.

„Geh’! Ich bin einmal ein Thor gewesen; jetzt ist die Täuschung zu Ende. Zum zweiten Male lasse ich mich nicht wieder umstricken von diesen Augen, die mir gelogen haben mit ihrer Angst und Zärtlichkeit. Sage Deinem Georg, er habe es doch wohl nicht bedacht, was es heiße, mich zum Kampfe herauszufordern, er werde es kennen lernen. – Du und ich, wir sind zu Ende miteinander, für immer.“

Er ging. Die Thür fiel schmetternd hinter ihm zu. Gabriele blieb allein. Sie blickte auf die Broschüre nieder, die noch auf dem Tische lag, auf den Namen, der dort stand, und sah doch nichts von beiden. In ihrem Innern halten nur die letzten Worte nach. Ja wohl, es war zu Ende, für immer. –

Die Befürchtungen, welche man auch heute für die Ruhe der Stadt hegte, sollten sich nur zu bald erfüllen. Die militärischen Maßregeln wurden absichtlich mit der größten Offenheit getroffen, weil man Einschüchterung davon erwartete, aber sie hatten die entgegengesetzte Wirkung und steigerten nur die allgemeine Erbitterung gegen den Gouverneur. Es gährte freilich schon seit Monaten, aber diese Gährung hatte erst in den letzten Tagen einen wirklich bedrohlichen Charakter angenommen. Bis dahin hatte es freilich an feindseligen Kundgebungen nicht gefehlt, war aber noch nicht zur offenen Auflehnung gekommen. Man war in R. zu lange gewohnt gewesen, sich dem Willen des Gouverneurs zu beugen, als daß man sich so schnell von dieser Gewohnheit hätte losmachen können. Man kannte den Freiherrn und wußte, daß von ihm keine Schwäche und Nachgiebigkeit zu erwarten war; deshalb blieb es wochenlang bei dem Grollen und Murren. Die Autorität eines energischen, unbeugsamen Charakters bewährte sich auch hier. Raven hatte bisher noch immer den drohenden Sturm beherrscht; noch gestern war der Macht seiner Persönlichkeit die Menge gewichen, freilich in einer Weise, die auch ihm zeigte, daß es mit dieser Macht zu Ende ging.

Jetzt aber schien die Sache an einem Wendepunkte angelangt zu sein. Die Verhaftungen, die vor einigen Tagen auf Befehl des Freiherrn vorgenommen wurden und bei denen man mit vollster Härte und Rücksichtslosigleit zu Werke ging, fachten das schon längst glimmende Feuer zu heller Flamme an. Der gestrige Tumult hatte dem Versuch gegolten, die Freilassung der Verhafteten zu erzwingen, und als der Versuch scheiterte und der Gouverneur auch jetzt noch allen Vorstellungen und allem Drängen ein unbeugsames Nein entgegensetzte, brach die nur für den Augenblick beschwichtigte Aufregung mit verdoppelter Macht los.

Der Abend war herangekommen. Im Regierungsgebäude herrschte überall Unruhe und Aufregung. Die sämmtlichen Eingänge bis aus das Hauptportal waren verschlossen und bewacht; die Dienerschaft drängte sich in ängstlicher Erwartung auf den Treppen und Corridoren, und draußen vor den Fenstern blitzten die Bajonnette der Soldaten. Eine starke Militärabtheilung hielt den Schloßberg besetzt; sie war gerade zu rechter Zeit gekommen, um zu verhindern, daß man das Schloß selbst bedrohte. Das war allerdings abgewendet und die Menge zurückgedrängt worden, aber dafür wogte der Tumult in den nächstgelegenen Straßen um so heftiger, und es stand jeden Augenblick ein Zusammenstoß zu erwarten.

In den Zimmern des Gouverneurs ging es sehr lebhaft zu. Dort jagte eine Meldung die andere: Polizeibeamte und militärische Ordonnanzen kamen und gingen. Hofrath Moser war an die Seite seines Chefs geeilt, den er nun einmal bei jeder Gefahr als den Hort der Sicherheit betrachtete; auch Lieutenant Wilten, der einen Theil der Besatzung des Schlosses commandirte, befand sich bei dem Freiherrn und vor wenigen Minuten war auch der Bürgermeister angelangt, der sich nun doch zu diesem letzten Versuche entschloß, den er heute Morgen unterlassen hatte.

Raven selbst stand kalt und unbewegt inmitten all dieses Drängens und Treibens. Er hörte die Meldungen an und gab die Befehle, ohne auch nur einen Augenblick seine Ruhe zu verleugnen, aber die Umgebung hatte sein Antlitz noch nie so hart und eisern gesehen, wie an diesem Abende. Vielleicht hatten die Stürme der letzten vierundzwanzig Stunden die Härte verschuldet, die jetzt in seinen Zügen eingegraben stand, aber was er seit gestern Abend auch durchgekämpft hatte, fremden Augen gegenüber war und blieb er der stolze, unerschütterliche Freiherr von Raven, an dem Alles abglitt, was Andere fast zusammenbrechen ließ.

„Ich bitte und fordere zum letzten Male, daß Sie es nicht zum Aeußersten kommen lassen,“ sagte der Bürgermeister. „Noch ist es Zeit; noch ist es nicht zum Blutvergießen gekommen; in der nächsten Viertelstunde möchte es zu spät sein. Es heißt, Sie hätten Befehl zum schonungslosen Vorgehen gegeben. – Ich kann und will das nicht glauben –“

„Sollte ich vielleicht das Schloß einem Angriffe preisgeben?“ unterbrach ihn der Freiherr. „Sollte ich abwarten, bis man den Eingang stürmte und mich hier in meinen Zimmern beleidigte? Ich glaube hinreichend gezeigt zu haben, daß ich es nicht liebe, mich und meine Person mit Sicherheitsmaßregeln zu umgeben, aber ich habe noch für Andere einzustehen und vor allen Dingen das Regierungsgebäude zu sichern. Das ist einfach meine Pflicht, der ich nachkommen werde.“

„Es handelt sich um eine Demonstration, nicht um einen Angriff,“ erklärte der Bürgermeister. „Doch gleichviel – das Schloß mußte unter allen Umständen gesichert und die Menge zurückgedrängt werden. Das ist aber jetzt geschehen, der ganze Schloßberg ist besetzt, und damit kann es genug sein. Der Tumult da unten ist unschädlich und wird sich zerstreuen, wenn man ihm seinen Lauf läßt.“

„Oberst Wilten wird die Straßen räumen lassen,“ sagte Raven kalt. „Und wenn man ihm Widerstand dabei entgegensetzt, so wird er von den Waffen Gebrauch machen.“

„Das giebt ein unberechenbares Unglück. Das Militär hält die Zugänge der Schloßstraße besetzt. Die Menge ist von beiden Seiten eingekeilt und hat nicht einmal Raum zur Flucht. Lassen Sie das nicht geschehen, Excellenz! Es handelt sich um das Leben von Hunderten.“

„Es handelt sich um die Ruhe und Sicherheit der Stadt, die nicht länger durch eine Pöbelrotte bedroht werden darf –“ die Stimme des Freiherrn hatte den Klang eiserner Entschlossenheit. „Ich habe lange genug mit dieser Maßregel gezögert, nun sie aber einmal beschlossen ist, wird sie auch ihren Lauf nehmen. Werden die Straßen ohne Widerstand geräumt, so ist kein Grund zur Besorgniß vorhanden im anderen Falle – die Folgen auf das Haupt der Empörer!“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und der Polizeidirector trat ein. Raven ging ihm entgegen. „Nun, wie steht es?“

„Ich habe meine Leute von den Hauptpunkten zurückgezogen,“ versetzte der Gefragte. „Wir können nichts mehr thun; der Tumult wächst mit jeder Minute; es scheint, man macht sich zum Widerstande bereit. – Ich lasse soeben einige Verwundete in das Schloß bringen, es ist nicht möglich, sie jetzt nach der Stadt zu transportiren, sie müssen vorläufig hier Aufnahme finden.“

„Hat es bereits Verwundete gegeben?“ fiel der Bürgermeister ein. „Vor zehn Minuten, als ich den Schloßberg passirte, war es noch zu keinem Zusammenstoß gekommen.“

„Es war vorhin, kurz vor dem Anrücken des Militärs, als wir noch allein den Anprall der ganzen Menge auszuhalten hatten,“ entgegnete der Polizeidirector. „Zwei meiner Leute sind dabei ziemlich arg verletzt worden. Leider auch noch ein Dritter, gänzlich Unbetheiligter, ein Arzt, der uns zu Hülfe eilte und die Verwundeten verband. Er war gerade auf dem Rückwege begriffen, als einer der zahlreichen Steinwürfe ihn traf und er leblos niederstürzte. Es ist der Doctor Brunnow, von dem wir heute Morgen sprachen,“ fügte der Redende halblaut zu dem Hofrath Moser gewendet hinzu.

„Wer?“ fragte Raven, der den Namen gehört hatte, mit Lebhaftigkeit.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_373.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)