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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Es soll ja jetzt sehr unruhig in der Stadt sein,“ bemerkte Gabriele, indem sie selbst einen ängstlich fragenden Blick auf ihren Vormund richtete, welchen dieser jedoch nicht zu bemerken schien.

„Es hat allerdings einige lärmende Demonstrationen gegeben,“ erwiderte er. „Die Sache ist aber ohne ernstere Bedeutung und wird bald zu Ende sein. Du brauchst Dich in keiner Weise zu ängstigen.“

„Man behauptet aber, daß die ganze Bewegung sich gegen Dich allein richtet,“ sagte Gabriele mit stockender Stimme.

Raven runzelte die Stirn. „Wer behauptet das?“

„Oberst Wilten ließ öfter Andeutungen darüber fallen. Ist es wahr, daß man Dir in der Stadt so feindlich gesinnt ist?“

„Ich bin in R. niemals populär gewesen,“ erklärte der Freiherr mit vollkommener Gelassenheit. „Gleich in der ersten Zeit, als ich hierher berufen wurde, galt es, der drohenden Rebellion den Zügel anzulegen. Das ist mir allerdings gelungen, aber man liebt gewöhnlich nicht Den, dem so etwas gelingt. Ich weiß am besten, wie viel Haß und Feindschaft mir mein damaliges Vorgehen geschaffen hat und wie hartnäckig man daran festhält, in mir den Unterdrücker zu sehen, trotz Allem, was ich für die Stadt und die Provinz gethan habe. Wir sind stets im Kriegszustande mit einander gewesen, aber ich habe noch immer die Oberhand behalten, und das wird auch diesmal geschehen.“

Gabriele dachte an die räthselhaften Worte Georg’s, für die ihr noch immer keine Erklärung geworden war. Er wich damals ihrem Andringen so entschieden aus, und der Abschied kam so plötzlich und unerwartet. Es waren ihnen ja nur Minuten zum Lebewohl vergönnt, dann mußte der junge Mann sich losreißen, aber er ließ Gabriele in marternder Angst zurück. Sie wußte doch jetzt, daß irgend etwas dem Freiherrn drohte, und sie beschloß auf alle Gefahr hin, ihn wenigstens zu warnen.

„Du stehst aber ganz allein gegen eine Menge von Feinden,“ sagte sie. „Du kannst nicht wissen, nicht einmal ahnen, was sie im Geheimen gegen Dich unternehmen. Wenn es nun etwas Gefährliches ist!“

Raven sah sie mit dem Ausdrucke unverhehlten Erstaunens an. „Seit wann kümmerst Du Dich denn um solche Dinge? Dergleichen lag Dir doch früher unendlich fern.“

Das junge Mädchen versuchte zu lächeln. „Ich habe in der letzten Zeit so Manches gelernt, was mir früher fern lag. Hier handelt es sich aber um ganz bestimmte Andeutungen –“

„Die Dir zugekommen sind?“

„Ja.“

Der Freiherr stutzte; sein Blick gewann wieder die durchbohrende Schärfe, die ihm bisweilen eigen war, als er rasch und hastig fragte:

„Du stehst in Verbindung mit der Residenz?“

„Ich habe keine einzige Zeile, überhaupt kein Lebenszeichen von dort erhalten.“

„Nicht?“ sagte Raven milder. „Ich vermuthete es, weil Assessor Winterfeld sich gegenwärtig im Ministerium befindet, wo er mit seiner Ansicht, daß ich ein Tyrann ohne Gleichen sei, wohl Gesinnungsgenossen finden dürfte. Ihm persönlich nehme ich diese Meinung durchaus nicht übel, denn ich war genöthigt, ihm und seinen Wünschen in einer Weise entgegenzutreten, die ihn immerhin berechtigt, mich zu hassen und sich an mir zu rächen, wenn das überhaupt in seinen Kräften stehen sollte.“

„Er wird niemals etwas thun, was unedel oder niedrig ist,“ fiel Gabriele ein.

Der Freiherr lächelte verächtlich. „Ich kann Dir versichern, daß ich auf den Haß und die Feindschaft des Herrn Assessor Winterfeld sehr wenig Gewicht lege. Ich habe wohl bedeutendere Gegner gehabt als ihn und bin mit ihnen fertig geworden. – Wenn übrigens jene Andeutungen nicht aus der Residenz gekommen sind, so kann ich nur annehmen, daß die albernen Gerüchte, welche ganz R. durchschwirren, auch ihren Weg nach dem Wilten’schen Landsitze gefunden haben. Es fehlt ihnen aber jeder thatsächliche Anhalt. Ich zweifle durchaus nicht daran, daß man etwas gegen mich unternehmen möchte, man wird sich aber hüten, den Gedanken zur That zu machen, denn man kennt mich hinreichend und weiß, daß ich etwaigen Angriffen gewachsen bin. Wäre die Lage wirklich so drohend, so würde ich Dich und Deine Mutter nicht zurückkommen lassen. Ihr werdet allerdings in den nächsten Tagen die Ausfahrten unterlassen müssen, aber das dauert hoffentlich nicht lange, und jedenfalls seid Ihr im Regierungsgebäude und in der Wohnung des Gouverneurs sicher vor etwaigen Pöbelexcessen.“

„Aber Du bist es nicht,“ rief Gabriele in ausbrechender Angst. „Der Oberst behauptet, Du setztest Dich rücksichtslos jeder Gefahr ab und hörtest niemals auf irgend eine Warnung.“

Raven wandte langsam und finster das Auge auf sie. „Nun, das geht doch wohl nur mich allein an, oder – ängstigst Du Dich um meinetwillen?“

Sie wagte nicht zu antworten, aber die Antwort lag in ihrem Auge, das bittend, flehend dem seinigen begegnete. Der Freiherr beugte sich zu ihr nieder, und jetzt klang es wie athemlose Erwartung in seiner Stimme, als er wiederholte:

„Sprich, Gabriele – ängstigst Du Dich um meinetwillen?“

„Ja!“ kam es bebend von ihren Lippen. Es war nur ein einziges Wort, aber es übte eine verhängnißvolle Wirkung. Gabriele sah wieder den Flammenblitz aufleuchten der sie schon einmal getroffen. Dieser Blick voll lodernder Gluth brach den Eispanzer, mit dem der stolze, starre Mann sich umgeben hatte. Ein einziger Augenblick vernichtete, was eine wochenlange Selbstbeherrschung so mühsam geschaffen hatte, der Traum war nicht zu Ende – das verrieth dieses jähe Auflodern.

Neben ihnen brauste der Fluß, und drüben in den herbstlichen Wäldern rauschte es stärker. Die Wolkenwand, die sich immer drohender im Westen erhob, zerriß, und die Sonne zeigte noch einmal voll und klar ihr glühendes Antlitz. Einige Minuten lang standen Gebirge, Wald und Strom in purpurnem Lichte; wie ein Verklärungsschein floß es über die Erde hin, und das ganze weite Thal erglühte in überirdischer Pracht – aber es waren nur Minuten. Dann verschwand das leuchtende Gestirn; der verklärende Schimmer erlosch, und es blieb nur die abendliche Herbstlandschaft mit ihrem Sturmgewölk und fern am Horizont das letzte Abendroth. Es ging ein halb wehmüthiger, halb unheimlicher Zug durch die ganze Natur, wie Todesahnen.

„Du hast mich in diesen letzten Wochen wohl auch für einen Tyrannen gehalten?“ sagte Raven in gedämpftem Tone, aber jedes Wort verrieth seine innere Erregung. „Vielleicht dankst Du es mir noch einst, daß ich Dich vor einer Uebereilung bewahrte. Du kanntest Dich selbst und Dein eigenes Herz noch nicht und wolltest Dich schon für das ganze Leben binden. Winterfeld war der Erste, der Dir entgegentrat, als Du aufhörtest Kind zu sein, der Erste, der Dir überhaupt von Liebe sprach, und Du träumtest Dich in eine Neigung hinein, die nie bestanden hat. Es war ein Kindertraum, nichts weiter.“

„Nein, nein!“ wehrte Gabriele ab und versuchte ihre Hand frei zu machen, aber vergebens – der Freiherr hielt sie mit eisernem Drucke fest, während er fortfuhr:

„Du fühlst die Wahrheit dessen, was ich sage, sträube Dich nicht dagegen! Ein Versprechen kann gelöst, ein Wort zurückgegeben werden –“

„Niemals!“ stieß das junge Mädchen leidenschaftlich heraus. „Ich liebe Georg, ihn allein und keinen Andern. Ich werde sein Weib werden.“

Raven ließ plötzlich ihre Hand fahren; der Strahl in seinem Auge erlosch, und der alte eisige Ausdruck legte sich wieder über seine Züge. Seine Stimme hatte eine grenzenlose Härte und Bitterkeit, als er erwiderte:

„So laß auch künftig die Angst und Sorge um mich – ich will sie nicht.“

Sie fuhren weiter, ohne daß ferner zwischen ihnen ein Wort gewechselt wurde. Die Schatten des Abends senkten sich allmählich herab; das Gebirge umschleierte sich vollständig, und der Nebel, der über den Feldern lagerte, begann dichter zu werden. Es dämmerte schon, als man endlich R. erreichte, war aber noch so hell, daß man selbst in einiger Entfernung die Gegenstände unterscheiden konnte. Der Wagen hatte bereits die Vorstadt passirt und bog jetzt in die breite Straße ein, die nach dem Schloßberge führte. Am entgegengesetzten Ende derselben lag einer der größeren Plätze der Stadt, wo es sehr unruhig herzugehen schien, denn von dort scholl wüstes Lärmen und Toben herüber, und man unterschied trotz der Dämmerung deutlich wogende Menschenmassen, die den ganzen Platz bedeckten. Der Freiherr stutzte, als die ersten Töne des Lärmes an sein Ohr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_340.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)