Seite:Die Gartenlaube (1878) 280.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Eines Abends schlenderte ich aufgelösten Geistes die Bellealliancestraße entlang, ohne Willen, ohne Vorsatz und ohne Lebenslust, das beklagenswerthe Opfer widriger Pflichten – da leuchteten mir durch das eiserne Gitter des Kirchhofes grüne Bäume und Sträucher so verlockend entgegen, daß ich kurz entschlossen eintrat, in der Hoffnung, dort ein wenig Kühlung zu finden. Dies schlug allerdings fehl, denn die allmächtige Sonne hatte auch in dem Schatten der Bäume brütende Schwüle verbreitet: allein es zog mich doch an, dieses Gräberfeld zu durchwandern; es entsprach meiner Stimmung und erleichterte meine Seele. Gebrochene Säulen, Kreuze und Steintafeln von allen Arten, dunkle, trübselige Cypressen und rankender Epheu, der alles umspinnt – wer kennt nicht den Charakter eines solchen Ortes! Ich ging umher und las die Inschriften. Welch eine Unsumme von Tugend lag hier, wie überall, begraben!

Mir gingen verschiedene ehrenwerthe Personen durch den Sinn, die auch einmal hierher kommen werden. Und sie, die im Leben der Haß ihrer Nebenmenschen, die Qual ihrer Verwandten waren, an denen nichts vollkommen war als ihre Laster, sie werden hier ruhen als unvergeßliche Väter, als geliebte Mütter, als musterhafte Bürger, und ein Verzeichniß ihrer Tugenden wird vorhanden sein in Stein oder Erz zur Bewunderung nachfolgender Geschlechter. Es ist ein lügenhaftes Geschäft, Grabsteine zu fabriciren.

Die Schwüle des eingeschlossenen Raumes machte mich noch müder, als ich schon war. Ich setzte mich auf eine alte gebrechliche Bank in der Nähe eines mit Epheu umsponnenen Grabhügels und versenkte meine Blicke in dieses dunkelgrüne Kraut des Vergessens.

Es waren wenig Menschen auf dem Kirchhof; in der Ferne saßen einige schwarzgekleidete Frauenzimmer an einem frischen Grabhügel, und die Leute des Kirchhofinspectors begossen geschäftsmäßig die ihrer Sorge anvertrauten Gräber. Das Geräusch der lebendigen Straße drang dumpf zu mir her; in der hohen Luft jagten sich die Thurmschwalben schrillend und schreiend, und wo die schräge Sonne das Gras noch durchglühte, zirpte kleines emsiges Gethier seinen Abendgesang. Es mochte wohl den Anschein haben, als säße ich dort in trübselige Gedanken über die Vergänglichkeit alles Irdischen versunken, allein ich will es nur gestehen: ich dachte an einen kühlen Keller und an Rheinwein in Eis.

In diesem Augenblicke hörte ich eine dünne fadenscheinige Stimme hinter mir sagen: „Sie sind wohl ein Verehrer von Chamisso, mein Herr?“

Ich hatte auf die leisen Schritte, welche sich mir näherten, nicht geachtet, jetzt wendete ich mich und sah einen kleinen, hageren, schwarzen Herrn hinter mir stehen, der den Blick von mir erläuternd auf das epheuberankte Grab wendete und zugleich mit der Spitze seines Stockes darauf hin zeigte. Ein merkwürdiger alter Herr mit einem gelblichen scharfen Antlitz, dem ein Paar ganz unvorbereitete, plötzliche schwarze Augen einen seltsam starren Ausdruck gaben.

„Allerdings, mein Herr,“ antwortete ich, „aber weshalb diese Frage?“

„Nun, das ist er ja,“ sagte der Alte fast unwillig, indem er mit seinem Stocke zweimal hastig auf das Grab hindeutete. Dann drückte er ihn zwischen die Kniee, zog eine goldene Dose hervor und nahm eilfertig mit zitternden Fingern eine Prise. Ich sah, daß dieser Stock als Knopf einen silbernen Todtenkopf trug, und kam auf die seltsame Idee, den Mann für einen Arzt zu halten, der in seinem Garten spazieren geht. Dies sprach ich aber nicht aus, sondern begab mich an das Grab, um es näher zu betrachten. Der Alte folgte mir und schob mit seinem Stock eifrig die Epheuranken fort, die den einfachen Stein überkrochen hatten.

„Dies ist er, und dies ist seine Frau,“ sagte er und deutete auf die beiden Inschriften, „ich habe ihn noch gekannt, das war ein Dichter auch dem Aussehen nach. Es sind hier noch mehr aus der Zeit, z. B. Devrient und Hoffmann. Soll ich Ihnen Hoffmann zeigen?“

Und ohne meine Zustimmung abzuwarten, steuerte er mit der Sicherheit eines Menschen, der sich ganz zu Hause fühlt, quer über den Kirchhof auf kleinen Richtsteigen zwischen den Gräbern, und ich folgte ihm, halb verwundert, halb neugierig, wie dies wohl ablaufen würde. Endlich stand er still und deutete auf eine flache Steintafel, welche aus einer ebenen von der Sonne gedorrten Grasfläche emporragte.

„Sie haben den Hügel einsinken lassen,“ sagte er, „und die Tafel ist schief geworden.“ Dann las er mit einer gewissen Andacht die Inschrift:

E. T. W. Hoffmann

geb. Königsberg den 24. Januar 1776

gest. Berlin den 25 Juni 1822

Kammergerichtsrath.

Ausgezeichnet

im Amte,

als Dichter,

als Tonkünstler,

als Maler.

Von seinen Freunden.“

Hinter jedem Absatze des letzten Theiles dieser Grabschrift machte er eine kleine Pause, um mir mit seinen schwarzen, starren Augen die Wirkung vom Gesichte zu lesen, die eine solche Vielseitigkeit auf mich ausüben müßte.

„Es ist genug für einen Menschen,“ sagte er dann, und sah mich wieder an, meine Bestätigung erwartend.

Nun bin ich zufällig ein Verehrer von Hoffmann und kenne seine sämtlichen Schriften ziemlich genau. Als der Alte dies aus meiner Antwort merkte, schien ich sein Herz gewonnen zu haben, denn es stellte sich heraus, daß Hoffmann sein Lieblingsschriftsteller war, und wir geriethen in ein begeistertes Gespräch, wie es wohl zu entstehen pflegt, wenn zwei fremde Menschen in gleichem Cultus sich begegnen. Merkwürdiger Weise schätzte aber der alte Herr diejenigen Stücke am höchsten, in welchen vom Dichter jedes erlaubte Maß überschritten war, wo er seiner Lust am Grauenhaften und Phantastischen den Zügel hat schießen lassen. Aber darin war er mit mir einig, daß von dem ganzen romantischen Zauberwald, der in jener Zeit wild und üppig emporschoß, sich außer Kleist und einigen kleinen Märchen von Tieck, Fouqué und Brentano nichts so lebenskräftig erwiesen hat, wie die Arbeiten unseres Dichters, ja daß er und Kleist als die beiden bedeutendsten Kräfte der romantischen Schule von damals zu bezeichnen sind. Denn nur das hat Werth, was Dauer hat. Die Gaukelbilder, welche Tieck einst in die Lüfte zauberte, hat der Wind längst verweht und nur noch der Literarhistoriker spürt ihren blassen Schatten nach.

Unter solchen Gesprächen wanderten wir in den Steigen des Kirchhofs und standen endlich still vor einer Grabcapelle, wie sie mannigfach sich an die Umfassungsmauer anlehnen. Es war eine Pause in unserer Unterredung eingetreten, und mir wurde die Absichtlichkeit auffällig, mit welcher der alte Herr gerade vor dieser Capelle Halt gemacht hatte. Zwischen zwei Säulen von dunkelrothem polirtem Granit, welche ein Giebel aus gleichem Stoffe krönte, lag der Eingang, verschlossen von einer schweren kunstreich mit Bronze beschlagenen Thür. Das Ganze machte einen sehr ernsten und feierlichen Eindruck. Der alte Herr grub einen Schlüssel aus seiner Tasche hervor und machte sich mit einer seltsamen hastigen Unruhe daran, diese Thür zu öffnen. Dann, ohne ein Wort zu sagen, drängte er mich förmlich hinein und schloß hinter uns wieder zu. Es war ganz dunkel und kühl, wo wir uns jetzt befanden; ein seltsamer Schauer überlief mich. Der Alte stieß eilig eine Thür vor uns auf, und das eigentliche Innere der Capelle, ein runder Kuppelraum von freundlicher Helle und Heiterkeit, nahm uns auf. Die Beleuchtung kam von oben durch matt geschliffene Scheiben, und die Wände waren aus polirtem Marmor von sanfter und heiterer Farbe hergestellt. Oben lief ein Fries herum aus Glasmosaik, dessen schöne Zeichnung und anmuthige Farbengebung mich sofort anzog. Es war eine Art Todtentanz, jedoch ohne den düsteren Charakter, der diesen Darstellungen sonst eigen zu sein pflegt.

In heiterem buntem Ranken- und Arabeskenwerk trieb allerlei Volk sein Wesen, tanzend, trinkend, lachend, musicirend, in das Studium alter Bücher versenkt oder schaffend in rüstiger Thätigkeit. Alle Beschäftigungen in Genuß und Arbeit waren vertreten und nur bei näherer Betrachtung sah man, daß sämmtliche Früchte und Blumen, in welche die Arabesken ausliefen, aus zierlichen kleinen Todtenköpfen, Stundengläsern, gekreuzten Knochen, Särgen

und ähnlichen Emblemen des Todes bestanden, daß diese Dinge überall hineinnickten und rankten in das blühende Leben, daß die

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_280.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)