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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

aller Kranken eine seltene Uebereinstimmung bezüglich der schon geschilderten Empfindungen.

Dr. Krishaber ist der Meinung, daß sich der Kranke in der That nicht täuscht, wenn er glaubt, daß er ein Anderer sei. Auch wiedergenesene Kranke sind derselben Meinung. Das Ich ist ein Product unserer Empfindungen; ändern sich diese, so muß sich auch das Ich ändern und kann nicht eher wieder erscheinen, als bis Empfindungs-Störungen, welche den Verlust des persönlichen Bewußtseins zur Folge hatten, wieder ausgeglichen sind.

Seitdem man einmal auf diese merkwürdige Bewußtseins-Störung aufmerksam gemacht worden ist, häufen sich, wie dieses bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt, die einschlägigen Beobachtungen von verschiedenen Seiten her. So erzählt M. Azam („Revue scientifique“) die Geschichte der dreiunddreißigjährige Felida X., welche seit frühester Jugend fast täglich plötzlich in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf verfällt, aus welchem sie nach einigen Minuten als ein völlig verändertes Wesen erwacht. In diesem „zweiten Zustande“ weiß sie genau Alles, was während der früheren zweiten Zustände mit ihr vorgegangen ist, während sie im normalen Zustande davon auch nicht die leiseste Erinnerung hat. In den letzten Jahren hat sich die Dauer des „zweiten Zustandes“ dergestalt verlängert, daß er fast zum normalen geworden ist, und daß, wenn sie wieder zur Norm zurückkehrt, ein großer Theil ihres Lebens aus ihrem Gedächtnisse verschwunden ist.

Professor Laveran am Hospital Val de Grace erzählt in der „Union médicale“ (Nr. 36, 1877): Der dreiundvierzigjährige Capitain M. S. glaubt sich in zwei Personen verwandelt. Er sieht fortwährend an seiner Seite einen Andern, der ihm Alles nachthut. Der Kranke weiß, daß er das Opfer einer Täuschung ist, aber dennoch kann er sie nicht los werden.

Dr. Th. Galicier („Revue philosophique“, 1877, Nr. 7.) behandelte einen Kranken, der während der Heilung eines sogenannten Anthrax die Erscheinung des doppelten Bewußtseins darbot. Er glaubte plötzlich nicht mehr Er selbst oder in Frankreich zu sein es kam ihm vor, als ob er ein Anderer oder in dem Körper eines Anderen sei. Später sagte er aus, daß er sich in einen Chinesen verwandelt und in China zu sein glaubte. Auch dieser Kranke pflegte zu sagen: „Ich bin nicht mehr Ich,“ oder „Ich bin ein Anderer.“ Galicier vergleicht diesen Zustand sehr gut mit jenen eigenthümlichen Zuständen, die zeitweise wohl jeden Menschen derart befallen, daß er die oft gehörten Redensarten gebraucht: „Ich kenne mich selbst nicht mehr;“ „Ich weiß nicht, was ich spreche;“ oder daß er zu seiner Umgebung sagt: „Achtet nicht auf das, was ich spreche oder thue! Ich bin unschuldig daran.“ Auch Neugeborene und ganz junge Kinder haben, wie bekannt, nicht das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit oder des eigenen Ich und erlangen es erst nach und nach. Daher auch dem Erwachsenen das Gefühl oder die Erinnerung der frühesten Kindheit total abgeht. Was wir davon wissen, wissen wir nur vom Hörensagen. Das Kind weiß auch anfangs die verschiedenen auf die Oberfläche seines Körpers einwirkenden Empfindungen nicht voneinander zu sondern oder aber zu einem Ganzen zu verbinden. Erst in Folge einer langen Erfahrung beginnt das Ich sich als Individuum oder als ein einiges untheilbares Wesen zu fühlen und sich als solches dem Nicht-Ich gegenüberzustellen; erst Gedächtniß und Erinnerung können dem Bewußtsein des Ich jene Festigkeit, Dauer und Einheit verleihen, welche es nach seiner vollständigen Ausbildung zu besitzen pflegt. Nach dem gewöhnlichen Vorurtheil begleitet das Bewußtsein des Ich unaufhörlich alle unsere Gedanken und Handlungen und wird nur durch Schlaf, Ohnmacht oder dergleichen unterbrochen. Aber eine vorurtheilslose Ueberlegung und Selbstbeobachtung zeigt, daß dem keineswegs so ist. Ein heftiger leiblicher oder moralischer Eindruck kann unseren Geist so vollständig absorbiren oder gefangen nehmen, daß Empfindungen, die zu jeder anderen Zeit unsere ganze Aufmerksamkeit gefesselt haben würden, spurlos an uns vorübergehen. Auch tiefes Nachdenken, künstlerische Einbildung oder dergleichen bringen denselben Effect hervor. Wir können uns in solchen Lagen vollständig selbst vergessen und erinnern uns erst später wieder daran, daß wir selbst es waren, die solchen Eindrücken hingegeben waren.

So ist das Ich-Bewußtsein nur eine wechselnde Form der Gesammt-Summe unserer Empfindungen. Solange diese einen gewöhnlichen und gleichbleibenden Verlauf nehmen, bleibt auch das Ich mehr oder weniger das nämliche. Sobald aber ein starker Wechsel, eine bedeutende Aenderung hierin eintritt, wechselt oder ändert sich auch das Ich-Bewußtsein. Die heftigste Aenderung stellen jene im Eingang unseres Aufsatzes beschriebenen Fälle von doppeltem Bewußtsein dar; die mäßigsten und allmählichsten Aenderungen sind diejenigen, welche durch den Uebergang vom Kindheits-Alter in dasjenige der Jugend und von der Jugend in das Mannes- und schließlich in das Greisen-Alten bewirkt werden. Ja, man kann ohne Uebertreibung sagen, daß jeder einzelne Mensch in jedem einzelnen Augenblicke seines Lebens ein anderer ist, so gering und allmählich auch die einzelnen Wechsel oder Aenderungen an sich sein mögen. Erst wenn wir längere Intervalle unseres Lebens auf einmal überschauen, werden wir deutlich und in der Regel mit Verwunderung gewahr, wie sehr wir uns geändert haben. Ja, es wird uns bisweilen schwer, in einzelnen Phasen oder Handlungen unseres Lebens uns selbst wieder zu erkennen; wir stehen gewissermaßen einem Fremden gegenüber, den wir nicht für unser eigenes Selbst erkennen würden, wenn wir nicht bestimmt wüßten, daß es so wäre.

Jene Fälle von doppeltem Bewußtsein sind also nur die höchste Steigerung eines an sich natürlichen physiologischen Verhältnisses oder Vorgangs, sodaß sie in dieser Hinsicht kaum den Namen „Krankheit“ verdienen. Auch sind ja die sogenannten Kranken mit doppeltem Bewußtsein an sich vollkommen vernünftig und berichten über ihren merkwürdigen Zustand, nachdem er vorüber ist, mit vollster Klarheit. Sobald der Krampf der Hirngefäße, welcher den Zustand hervorgerufsen hat, nachläßt und die Ernährung der betreffenden Hirntheile wieder in normaler Weise vor sich geht, ist Alles vorüber. Vielleicht ließen sich physiologischerseits auch die allmähliche Veränderungen des Bewußtseins und des ganzen Charakters im Laufe des individuellen Lebens, durch die allmählichen anatomische Veränderungen jener Hirngefäße und die dadurch herbeigeführte Aenderung in der Ernährung bestimmter Hirntheile erklären!?

Jedenfalls darf man dem genannten französischen Philosophen Taine Recht geben, wen er aus den hier beschriebenen Erscheinungen folgert, daß „das Ich oder die moralische Persönlichkeit als ein Product unserer Empfindungen zu verschiedene Zeiten verschieden ist und nur darum oder so lange als dasselbe erscheint, weil oder so lange diese Empfindungen dieselben sind. Aendern sie sich plötzlich, so ändert sich auch das Ich und erscheint als ein Anderes, bis es später mit Rückkehr der normale Sensationen wieder erscheint.“

Daß sich aus diesen Erfahrungen die wichtigsten Schlüsse für die Beurtheilung unseres Seelenwesens und namentlich für das gegenwärtig wieder so viel besprochene Verhältniß von Gehirn und Seele oder Gehirn und Geist ziehen lassen, wird sich Jeder unserer Leser von selbst gesagt haben. Unser seelisches Wesen ist nicht, wie man früher glaubte, an einen einzelnen Punkt des Gehirns geknüpft (Sensorium commune) sondern an die Gesammtmasse desselben und setzt sich gewissermaßen zusammen aus der zu einem einheitlichen Ganzen verbundene Thätigkeit aller einzelnen Hirntheile. Tritt dadurch, daß einer dieser Theile in seiner Verrichtung gestört wird, eine Störung ihres Zusammenwirkens, ihrer einheitlichen Thätigkeit ein, so müssen nothwendig solche Erscheinungen auftreten, wie die oben beschriebenen. Wahrscheinlich giebt es einen im tiefsten Innern des Gesammthirns gelegenen Hirntheil, welcher in Folge seiner anatomischen Lagerung und Faser-Verbindung dazu bestimmt ist, jene Einheit zu vermitteln, oder die Thätigkeit der einzelne Hirntheile unter einander zu verbinden. Dieser Theil wird es denn wohl auch sein, welcher bei der Erscheinung des doppelten Bewußtseins vorzugsweise betheiligt ist. Wäre unser Nervensystem so organisirt, wie dasjenige jener niederen Thiere, welche man in beliebig viele Stücke zerschneiden kann, wobei dann jedes einzelne Stück mit einem besonderen Bewußtsein für sich weiter lebt, so könnte die Theilbarkeit unserer Seele und unseres Bewußtseins (welche so viele Philosophen unter keinen Umständen anerkennen wollen) vor aller Welt durch den Augenschein bekundet werden.

Aber da unser Seelenmechanismus ein kunstvolles, zu einem einheitlichen Ganzen verwobenes Ineinander darstellt, so kann ein einzelner Theil nicht entfernt oder an seiner Thätigkeit gestört

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_102.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)