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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


nur tief geschädigt, sondern gerieth in vollständige Bedrängniß – die helfende Hand von John Smith allein konnte ihn retten. Dieser war zartfühlend genug, mich als Preis seiner Hülfe zu verlangen. Ich wußte keine andere Rettung für mich, als die Flucht; meine Ersparnisse reichten zur Reise aus; mein Clavierspiel genügte, um mir fortzuhelfen. So zerriß ich mit einem kühnen Entschlusse unerträgliche Bande; ich entkam insgeheim und unbemerkt und hoffte in dem fernen Bergstädtchen vor allen Nachforschungen sicher zu sein. Sie hatten meinen blauen Augen und blonden Haaren wohl nicht solche Vermessenheit zugetraut?“

„Vermessenheit? Vielleicht eher als –“

„Herzlosigkeit, wollen Sie sagen? Ich reiste nicht ab, ohne ein Schreiben zu hinterlassen, in welchem ich sagte, daß ich mir ungestörte Bedenkzeit verschaffen wolle, doch daß ich bestimmt niemals Herrn Smith meine Hand reichen würde, wenn er jetzt meinen Onkel nicht aus seiner Verlegenheit rettete. Er hat es gethan; wir sind ihm Dank schuldig.“

Der Hauptmann schleuderte mit seinem Stocke einen Kiesel, der im Wege lag, herunter in die Arena des Amphitheaters.

„Doch auch mein stilles Asyl wurde verrathen. Ein reisender Bremer Kaufmann, der die ganze Provinz mit seinen Kaffeesorten unsicher machte, war auch bis in das Städtchen gedrungen und hatte mich zufällig auf der Straße gesehen. Er berichtete das in Bremen, und die Folge davon war, daß der Vormund und Herr John Smith mich zurückholten; ein fernerer Widerstand war unmöglich, er hätte mich mit den Gerichten in Conflict gebracht.“

„Und Sie sagten mir kein Wort –“

„Was ich in dem Städtchen erlebte, kam mir wie ein schöner Traum vor. Und so wollte ich auch Ihnen wie eine Traumgestalt entschwinden, keine Verwirrung bringen in ein so schönes glückliches Leben.“

„Glücklich? O nein,“ sagte der Hauptmann, „ein Leben ohne Wünsche ist vielleicht Glück, doch es ist ein dumpfes Glück, ein Glück der Unwissenheit. Es giebt auch eine Unwissenheit des Herzens, doch wenn einmal die Ahnung eines schöneren Lebens über uns gekommen ist, wenn glühende Wünsche unser Herz erfüllen, dann, ja dann – doch wo ist Ihr John Smith?“

„Gegenwärtig in Adersbach, wo er sich an Backhühnern und Ungarwein gütlich thut. Er wollte uns nicht hierher begleiten; er hätte nicht Lust, sich bei dem durcheinander geworfenen Kegelspiel der Weckelsdorfer Felsen zu langweilen.“

„Er ist Ihnen hierher gefolgt? So ist er wohl Ihr Bräutigam?“ fragte der Hauptmann zögernd.

„Er betrachtet sich vielleicht so; auch hege ich für ihn einige pflichtschuldige Dankgefühle in meinem Herzen, doch seit ich edle Menschen kennen lernte – was haben Sie mir über ihn mitzutheilen? Woher wissen Sie von ihm?“

„Er wurde erkannt, als er auf Ihrem Balcon stand.“

„Erkannt – und von wem?“

„Von einer meiner Schülerinnen, von Gabriele.“

„Gabriele, immer Gabriele!“ rief Hulda aufgeregt. „Bei jedem Schritte muß ich ihr begegnen.“

„Das arme Mädchen!“

„Arm – und von Ihnen bedauert? Mir kam sie sehr reich vor, reich an Geist und Bosheit. Doch sie und John Smith – wie findet sich das alles zusammen? In welche geheimen Intriguen bin ich verstrickt? Und Sie, der edelste aller Menschen, Sie hätten mit die Hand im Spiele?“

„Gabriele schenkte mir ihr volles Vertrauen.“

„Ich zweifle nicht daran,“ sagte Hulda erblassend mit einem feindlichen Blicke, der ihre sonst so morgenhellen Züge entstellte.

„Gabriele kennt John Smith; sie hat ihn in der Residenz kennen gelernt, als sie dort Gouvernante war. Er hat ihr seine Liebe erklärt.“

„Unmöglich!“ rief Hulda in heller Entrüstung.

„Er hat ihr schriftlich sogar die Ehe versprochen.“

„O diese Gabriele! Sie erzählt ja die reizendsten Märchen, eine allerliebste Scheherezade! Und Sie glauben –“

„Ich glaube es, weil ich den Brief von John Smith gelesen, weil ich ihn längere Zeit in Händen hatte und ihn jeden Augenblick wieder erhalten kann.“

„Von wem?“ fragte Hulda.

„Von Gabriele.“

„Sie correspondiren mit ihr?“

„Bisweilen.“

„O mein Gott! Ich wußte, daß dieses Mädchen mir Unheil bringt.“

„Unheil? Das nennen Sie Unheil? Ist es nicht ein Glück, seine Freunde kennen zu lernen?“

Hulda stand eine Zeitlang in Gedanken verloren.

„Sie sind überzeugt, daß jener Brief von John Smith geschrieben worden?“

„Gabriele lügt nicht. Als sie den Brief erhalten, kam es zu einer Begegnung zwischen Beiden, einer Liebesscene, welche belauscht wurde und das Mädchen um seinen Ruf und seine Stellung brachte. Doch statt sein Versprechen zu erfüllen, verließ er die Residenz am Tage darauf und gab der Geliebten nie mehr ein Lebenszeichen. Sie kennen jetzt John Smith.“

Es trat eine längere Pause ein. Der Hauptmann köpfte mit dem Stocke einige Disteln und begann, als Hulda noch immer schwieg, sogar eine Silberdistel, die mit ihrem Blumenstern am Boden festgewachsen schien, aus der Erde zu graben.

„Kommen Sie zu meinem Onkel!“ sagte Hulda dann mit entschlossener Miene. „Er ist ein Ehrenmann. Ich glaube, Sie haben mir die Freiheit wiedergegeben.“

Eben zog der Bremer Kaufmann die Börse, um die Böllerschüsse zu bezahlen, welche das Amphitheater zu seiner Freude und auf seine Kosten bis in seine Grundfesten erschüttert hatten. Er sah nicht ohne einiges Befremden seine Nichte im Geleite eines fremden Mannes herankommen. Der Hauptmann wurde als der Sprachlehrer aus dem Bergstädtchen vorgestellt, und so gingen sie weiter in freundlichem Gespräch, vorbei an den Obelisken und Pyramiden, den Felsenzungen und Felsennasen der phantastischen Trümmerstadt. Als sie durch das sogenannte Sibirien kamen, wo in den dunklen Felsgängen ein Eiseshauch weht und ein Häufchen Schnee dem heißesten Sommer trotzt, rief Hulda aus:

„So sieht es in manchen Herzen aus, in denen das Eis nimmer schmilzt.“

„Caramba,“ sagte der Hauptmann, „Sie haben Recht.“

Der spanische Ausruf gewann ihm augenblicklich die Theilnahme des Großhändlers, welcher längere Zeit in Südamerika, in Peru und Ecuador, zugebracht hatte. Bald war eine Unterhaltung in fließendem Spanisch in bestem Gange; Hulda hörte mit Freuden zu, obschon sie kein Wort davon verstand. Im lebhaften Gespräch erreichten sie das Gasthaus, wo der Kaufmann es sich nicht nehmen ließ, den theuersten Ungar zu bestellen. Mitten in einem Getümmel von Gästen, bei einem Glase köstlichen Tokaier, machte der Hauptmann seine Eröffnungen über John Smith. Hulda sah an dem Schreck des Onkels, daß der entscheidende Schritt geschehen war; er schien anfangs noch Bedenken zu hegen, die wurden aber durch den Hauptmann siegreich widerlegt.

„Kommen Sie alsbald mit nach Adersbach!“ fuhr der Kaufmann plötzlich in Deutsch heraus; „canario! Die Sache muß noch heute in’s Reine kommen. Es ist Platz in unserem Wagen – seien Sie unser Gast!“ – –

Bald wühlten die Räder der eleganten Equipage den Staub auf den holperigen Landwegen auf, welche die beiden Felsenstädte mit einander verbanden. Der Mond ging blutroth am Horizonte auf; es war ein sternenheller Abend. Der Onkel war auf dem Rücksitz eingeschlafen, von dem Tokaier in süße Träume gewiegt. Der Hauptmann und Hulda saßen lange stumm neben einander.

„Haben Sie bisweilen meiner gedacht?“

„Ach, Ihr reizendes Stübchen war mir eine Welt,“ sagte Hulda, „so unter den Geistern aller Völker und Zeiten zu leben im Verkehr mit allem Schönen und Großen, was sie geschaffen und gedacht!“

„Leider gilt Ihre Theilnahme nur dem Stübchen, nicht dem unheimlichen Bewohner.“

Hulda schwieg. Der Wagen erhielt von einigen Steinen des Weges einen so gewaltigen Ruck, daß der Onkel zu erwachen drohte; doch die Gefahr ging vorüber.

„Und wenn ich Ihnen nun sage, daß Sie das Glück dieser freundlichen Idylle zerstört haben, daß mir alle diese Sprachen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 867. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_867.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)