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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 51.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Die zehnte Sprache.
Novelle von Rudolf Gottschall.
(Fortsetzung.)


Sehr erregt blätterte Hulda in Giusti’s Gedichten und fand dann bei der Uebersetzung für seine bittersten Ergüsse den geeignetsten Ausdruck. Der Hauptmann sah auf das blonde Köpfchen, das so trotzig auf die Hand gestützt war, auf die schwellenden Lippen, auf die Augen, welche mit Mühe eine Thräne zurückhielten; er hätte ihr diesen holden Trotz, der so vielversprechend war für seine eigene Neigung, von den Lippen küssen mögen, aber mit jener Grausamkeit, die der Leidenschaft so wenig fremd ist, wie den Triumphen der Eitelkeit, begann er sie zu quälen, um nochmals die Probe auf seine Rechnung zu machen.

„Gabriele ist in der That eine fesselnde Erscheinung; sie hat den Reiz des Ungewöhnlichen, und ich glaube wohl, daß ihre Leidenschaftlichkeit –“

„Wenden wir uns lieber zu Giuseppo Giusti!“ sagte Hulda kurz und las mit hastigem Eifer die ersten Strophen des „Gingillino“.

Diese Eifersüchteleien, welche selbst den frommen Zügen des sanften Mädchens einen böswilligen Trotz gaben, ließen den Hauptmann an seinem Glücke nicht länger zweifeln. Es hatte sich im Schatten der italienischen Lorbeerhaine, unter den erhabenen Bildern eines Dante, Tasso und Ariosto die unbewachte Neigung in zwei Herzen geschlichen, welche sich dieselbe immer noch nicht zu gestehen wagten. Der Hauptmann erschrak davor wie vor einer Neuerung, welche sein bisheriges Leben aus den Fugen zu rücken drohte; der ganze Reiz einer festwurzelnden Gewohnheit sträubte sich dagegen. Lieben – welche Ketzerei nach so langen, frommen Jahren des Junggesellenlebens! Lieben, vielleicht gar heirathen – welch ein nicht auszudenkender Gedanke! Ihn floh jetzt häufig der Schlaf; im Halbtraum hörte er in seinem Zimmer leise, trippelnde Schritte, bis er sich die Augen rieb und erkannte, daß es nur ein Traumgebilde seiner lebhaften Phantasie sei. Schon um drei Uhr des Morgens rief er seinen Skarnikatis, daß er ihm den Kaffee bereite, las bei Kerzenlicht seine ausländischen Classiker und starrte dann in die Dämmerung der Frühe hinaus, bis die Morgensonne die Rouleaux ihm gegenüber mit ihrem ersten Glanze vergoldete.

Die Morgenfrühe ist die Zeit mannhafter Entschlüsse. Der Hauptmann faßte den Entschluß, diesem schönen Mädchen näher zu treten und womöglich den Schleier zu lüften, der über ihrer Vergangenheit schwebte. Noch an demselben Tage folgte er ihr von fern, als sie gegen Abend ihre Schritte in das Mühlthal richtete, den Lieblingsspaziergang der schönen Welt des Städtchens. Die Sonne warf ihre schrägen Strahlen durch das Laub der Erlen und hohen silbernes Weiden, welche den schäumenden Bach entlang wuchsen, und tauchte den westlichen Himmel dann in ein rothes Feuer, welches gleichsam von den Wipfeln herabzutriefen schien und hinter dem Unterholze des Waldes einen flammenden Hintergrund bildete. Der Hauptmann fand Hulda auf einer Bank im Schatten eines hohen Weidenbaumes, gegenüber der epheuumrankten Mühle, deren Rad in den schäumenden Fluthen wühlte.

„So in Gedanken versunken, mein Fräulein?“

Hulda fuhr wie aus Träumen auf. „Ich habe früher viel gezeichnet,“ sagte sie; „man gewöhnt sich dann, die Natur mit den Augen des Malers zu betrachten. So vertiefe ich mich in das landschaftliche Bild, welches den Griffel des Zeichners herausfordert; denn es ist ebenso abgeschlossen wie anmuthig und von der Natur selbst zu den passendsten grünen Rahmen gefügt.“

„So viele Künste treiben Sie?“

„Meine Eltern hielten mich in früher Jugendzeit dazu an, und so habe ich auch nach ihrem Tode –“

„Ihre Eltern leben nicht mehr?“

„Vater und Mutter verlor ich in den letzten Jahren,“ sagte Hulda mit tiefem Seufzer, „ich habe mit ihnen mein Lebensglück begraben; ich stehe einsam in der Welt.“

„Und darf ich fragen –“ fuhr der Hauptmann fort.

„Fragen Sie lieber nicht,“ sagte Hulda, „woher ich komme, was mich hierherführt! Ich würde die Antwort schuldig bleiben. Es sind traurige Verhältnisse, kaum der Theilnahme werth, und ich habe mir selbst Schweigen über dieselben gelobt.“

„Doch wenn ich diese Theilnahme hegte? Es ist nicht Neugier in mir – – So lange ich in diesem Städtchen lebe, habe ich mich nie um irgend eines Menschen Schicksal gekümmert. Man kennt es ja auswendig; es ist ein Satz, der immer aus denselben Vocabeln besteht. Wenn ich bei Ihnen eine Ausnahme mache, so mögen Sie dies einem ungewöhnlichen Antheile zuschreiben!“

„Ich bin Ihnen dankbar dafür, herzlich dankbar,“ sagte Hulda, indem sie mit einem von Thränen umschleierten Auge zu ihm emporsah, „doch überlassen Sie mich meinem einsamen Geschick!“

„Wenn ich Ihnen aber mit Rath und Hülfe beistehen könnte –“

„Es ist dies unmöglich in meiner Lage.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 849. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_849.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)