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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


wenn er auf kindliche Fragen antwortete, deren Lösung wir noch nicht verstehen durften oder konnten: Warum? Darum! Aber auch wenn wir uns mit dieser Hinweisung begnügen wollten, so würde damit die Frage nicht gelöst, warum diejenigen schmarotzenden Arten, welche in dem Alter Hakenfüße haben, in der Jugend an deren Statt Schwimmfüße besitzen? Warum? Offenbar weil durch eine Reihe von Häutungen, die wir von andern Arten kennen, diese Schwimmfüße nach und nach so umgewandelt werden, daß das Weibchen gar keine, das Männchen nur rudimentäre besitzt.

Das Junge der Lausassel giebt uns hier schon einige Aufklärung. Es hat drei vordere Fußpaare, die mit Doppelkrallen bewaffnet sind. Aber diese Füße sind lang, mehrgliedrig, während die Füße der erwachsenen Thiere, wie es zum Festsitzen paßt, nur sehr kurze, krumme Hakenstummeln sind. Die Krallenfüße des Jungen sind offenbar dazu eingerichtet, die Garneele gewissermaßen zu harpuniren, sich an dem glatten Körper dieses überaus behenden und unbändigen Schwimmers festzuhaken und dann erst weitere Metamorphosen einzugehen.

So leitet uns denn die Bildung der Füße nothwendig zu dem Schlusse hin, daß die Lausassel ursprünglich ein freies Thier war, welches die Garneele als Locomotive benutzte, wie die Serolis wahrscheinlich die Fische benutzt, und daß aus diesem Fuhrgast zuletzt ein Hausgast der Garneele geworden ist, welcher sich an einem bequemen Orte festsetzt, wo ihm diese nichts anhaben kann, und dort sich gemüthlich von dem Blute seines Hausherrn, vielleicht auch nur von den kleinen Thieren und anderen Dingen nährt, welche durch das Kiemenloch von dem Strome des Athemwassers ein- und ausgewirbelt werden.


Fig. 2.                   Fig. 3.                   Fig. 4.                   Fig. 5.
Laus-Assel (Bopyrus squillarum).
Fig. 2. Das Weibchen von der Bauchseite, achtfach vergrößert. a Unterseite des Kopfes. – Fig. 3. Das Männchen von der Rückseite, fünfzigfach vergrößert. – Fig 4 und 5. Junge von der Bauchseite und im Profil, dreihundertfünfzigfach vergrößert.

Der Schmarotzer ist nicht ursprünglich geschaffen – er ist geworden.

Zu derselben Schlußfolgerung leiten uns die Augen und die Fühler, die einzigen bis jetzt erkannten Sinnesorgane. Groß und mächtig bei den Jungen, setzen sie dieselben offenbar in den Stand, die pfeilschnell durch das Wasser schießende Garneele, deren Körper im Leben fast so durchsichtig ist, wie das Wasser selbst, zu sehen und, sobald sie ihr genaht und sich mit ihren Harpunenfüßen angeklammert haben, den Ort auszutasten, wo sie sich festsetzen wollen. Hier also ist eine Ausrüstung mit Sinnesorganen vorhanden, wie sie die meisten Thiere derselben Sippe während des ganzen Lebens nicht besser haben. Wie ärmlich ist diesen Jungen gegenüber das Männchen ausgestattet! Die großen, gehäuften Augen sind zu kleinen Punktaugen verschwunden, die Fühler kaum vorragende Anhänge geworden. Aber es hat doch in diesen Rudimenten noch die Erinnerung an eine bessere Ausstattung, an einen reicheren Sinnesaustausch mit der Außenwelt, und die geringe Beweglichkeit, welche ihm geblieben ist, gestattet ihm wenigstens, die Organe zu benutzen.

Welchen Nutzen könnte aber das Weibchen von Augen und Fühlern ziehen? Es sitzt fest – für seine Lebenszustände ist es durchaus gleichgültig, ob die Garneele sich im Dunkel der Tangblätter und Felsengrotten birgt oder ob sie im hellen Wasser sich tummelt – seine ganze Thätigkeit ist auf Verdauen und Kinderzeugen reducirt; sein Organismus ist eine Maschine geworden, die nur im Innern arbeitet, nach außen aber keine Aeußerung dieser physiologischen Arbeit zu erkennen giebt. Ernährung und Stoffwechsel sind innere Arbeit; was an der Ernährung der Augen und der Fühler gespart wird, kommt der Erzeugung der Eier und der Jungen zu Gute. Fort also mit diesen unnöthigen Dingen! Sie gehen zu Grunde, weil sie nicht gebraucht werden.

Derselbe Einfluß der organischen Sparsamkeit, wenn ich mich so ausdrücken soll, zeigt sich im Verhältniß der beiden Geschlechter zu einander. Der Mann ist bei weitem kleiner, dafür aber auch weit beweglicher und empfindender, als das Weib. Der materielle Antheil, den er an der Erzeugung der Jungen nimmt, fällt weniger in das Gewicht, nimmt geringeren Raum ein, als der Antheil, welchen der weibliche Organismus durch die Bildung des Eies liefert. Bewegung aber ist Stoffverbrauch, und wenn das Weib mehr Stoff zur Eibildung nöthig hat, so wird es unbeweglich, während das Männchen immerhin einen Theil seines Materials in Bewegung abnutzen kann. Deshalb sehen wir denn auch allgemein in der Thierwelt das Weibchen ruhiger, seßhafter, als das andere Geschlecht, und wenn es sich um Schmarotzer handelt, bei denen ja auch die Seßhaftigkeit ein wesentliches Element ist, finden wir es mehr Schmarotzer, tiefer umgebildet als das Männchen. Bei den meisten Schmarotzern kommt aber noch ein anderes Element hinzu: die Nothwendigkeit der Vermehrung der Keime, die in directer Beziehung zu der Wahrscheinlichkeit der gesicherten Existenz steht. Viele Tausende von jungen Lausasseln mögen zu Grunde gehen, ehe es einer gelingt, eine Garneele zu haschen und sich an ihr festzuhaken. Es müssen also tausend und aber tausend Eier von einem Weibchen erzeugt werden, und um diesem enormen Stoffverbrauch zu genügen, wird der Körper desselben riesenhaft in dem Verhältniß zum Männchen, während die Eier so klein wie möglich werden, um dem Zahlenbedürfniß zu genügen. So erklärt sich das Mißverhältnis der beiden Geschlechter in Größe, Gestaltung und Rückbildung einfach durch das gebieterische Muß des Kampfes um das Leben.

Wenn aber die Jugendbildung dieser schmarotzenden Asseln sowohl, wie die geringere Rückbildung des Männchens wie mit dem Finger darauf hinweist, daß dieselben ursprünglich frei umherschwimmende Thiere waren, welche erst nach und nach zu Schmarotzern sich umbildeten, so ist damit ein tiefer Einblick in die beiden großen Vorgänge gethan, in Folge deren die Organismen sich umwandelten. Wir folgen dieser Umwandlung durch Anpassung und Vererbung in allen ihren Stufen bei der Art und den sie darstellenden Individuen selbst – wir folgen ihr nicht minder in der Reihe der Asseln selbst, von welchen die einen freie Schwimmer, die anderen Fahrgäste, die dritten Außenschmarotzer und die letzten sogar Binnenschmarotzer sind. Jeder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 840. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_840.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)