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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 49.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Junker Paul.
Erzählung von Hans Warring.
(Fortsetzung und Schluß.)


16.

Der Morgen, welcher der schreckensvollen Nacht folgte, war so freundlich und sonnig und der Garten der Villa Kayser lag so friedlich und thaufrisch im Lichte der Morgensonne da, daß Marie, die eben aus dem Hause getreten war und langsam die Stufen hinabschritt, fast geneigt war, die Ereignisse der Nacht für einen bösen Traum zu halten. So ruhig und still war Alles ringsumher, daß sie hätte meinen können, die Erde sei ein Paradies des Friedens und des Glückes, dessen harmonische Schönheit nie zerstört werden könne durch Scenen wüster Leidenschaft und roher Gewaltthat. Und doch bebten ihre Nerven noch unter der Nachwirkung der nächtlichen Schrecken, und das Herz that ihr weh, wenn sie der unausbleiblichen Folgen derselben gedachte.

Noch war keine nähere Kunde aus der Fabrik zu ihr gelangt. Nur durch Frau Hörig hatte sie erfahren, daß, während sie geschlafen, ein Bote erschienen sei, der Decken und Leinwandzeug für die Verwundeten gefordert und flüchtig erwähnt habe, daß Alles gut stände. Aber trotz dieser Nachricht wollte sich ihr Herz nicht zur Ruhe beschwichtigen lassen. Jetzt bereuete sie es fast, daß sie nicht ihrem ersten Impulse gefolgt war, der sie angetrieben, gleich nach Beendigung des Kampfes hinzueilen, ihre Hülfe anzubieten und sich zu überzeugen, wie ihre Lieben die Nacht überstanden. Aber diesen Plan hatte sie bei ruhiger Ueberlegung wieder aufgegeben. Sie hatte sich gesagt, daß sie, da man sie absichtlich von Hause entfernt hatte, nicht ohne gerufen zu sein dahin zurückkehren dürfe. Auch ihre beiden Gefährtinnen waren der Meinung gewesen, man müsse sich in Geduld fassen und dürfe sich nicht der Möglichkeit aussetzen, in den Zügen der Männer Erstaunen oder gar Mißbilligung bei ihrem Erscheinen zu lesen. So waren sie schweigend in’s Haus zurückgekehrt und hatten sich in ihre Zimmer begeben. Marie aber hatte keine Ruhe finden können. Bei dem ersten Geräusche, das sich unten im Hause vernehmen ließ, hatte sie sich erhoben und war nach schnell gemachter Toilette in den Garten hinabgegangen. Da stand sie nun und blickte sehnsüchtig nach der Fabrik hinüber. Nur eine kleine Strecke Weges lag zwischen ihr und dem Orte, zu welchem es sie mit einer Macht hinzog, die stärker war als sie. Sie hatte bereits die Gartenthür geöffnet und den wohlbekannten Fußpfad eingeschlagen, ehe sie sich ihrer Absicht völlig bewußt geworden war. Es war ein anmuthiger Weg, der den Zickzacklinien einen Baches folgte und von dichtem Erlengebüsch überdacht war. Mit schnellen Schritten eilte sie vorwärts. Ihre Sorge war so groß geworden, daß sie jedes Bedenken in ihr erstickte. Und – so fragte sie sich – wer konnte es ihr im Grunde auch verdenken, wenn sie Gewißheit haben wollte über das Schicksal ihrer Lieben? Wer konnte ihr einen Vorwurf daraus machen, daß sie ungerufen kam? Es waren ja ihre Brüder, zu denen sie hineilte.

Aber dennoch wurde ihr Schritt unwillkürlich zögernder. Weilte doch ein Mann bei Jenen, dem sie um keinen Preis der Welt unweiblich oder keck hätte erscheinen mögen. Nicht allein die Sorge um ihre Brüder war es, welche sie vorwärts trieb – schon während der Nacht hatte sie deutlich erkannt, daß diese aufgehört hatten, das einzige Glück ihres Lebens zu sein. Ja, dem Manne, der noch vor wenigen Wochen ihr fast fremd gewesen war, hatten ihre Thränen gegolten, um ihn hatte sie am meisten gesorgt und gebangt. – Und warum sollte sie den Schatz, den sie in ihrem Herzen entdeckt, ihm, dem Eigenthümer, verheimlichen? Sie wußte, daß es ihn glücklich machen werde, zu sehen, seine Liebe werde erwidert. Ja, sie wollte ihn in ihrem Herzen lesen lassen – jetzt in der Erregung des Augenblickes schien ihr das leicht zu sein.

Aber wieder wurde ihr Schritt zögernder. Wenn er ihr nun plötzlich gegenüberträte mit dem sarkastischen Lächeln auf den Lippen und dem scharfen Blicke seiner grauen Augen – würde sie den Muth finden, ihren Vorsatz auszuführen? Er war ein ruhiger, bedächtiger Mann, der es nicht liebte, wenn man nach augenblicklichen Impulsen handelte. Wenn sie ihm jetzt begegnete und er mit dem leichten Emporziehen seiner buschigen Brauen, das bei ihm stets mißbilligendes Erstaunen bedeutete, zu ihr spräche: „Wo wollen Sie hin, Fräulein Marie? Bitte, kehren Sie um! Das Haus Ihres Bruders ist kein Aufenthaltsort für Damen,“ – wenn er dies spräche, was würde sie erwidern?

Sie ahnte nicht, wie schnell diese Frage gelöst werden sollte. Denn während sie darüber nachdachte, wie sie in diesem Falle sich zu benehmen hätte, war sie an eine Biegung des Weges gelangt und der Gegenstand ihrer Gedanken stand ihr plötzlich, Aug’ in Auge, gegenüber. – Wie hatte sie sich gesehnt, ihn zu sehen! Und jetzt stand sie zitternd da, nicht fähig, ihm ein Wort der Begrüßung zu sagen. Nur ihre Hand konnte sie ihm reichen und ihn anblicken mit Augen, welche durch Thränen verdunkelt wurden. Und jetzt – richtig! Jetzt kamen fast dieselben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 817. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_817.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)