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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


ihre Religiosität, gemißbraucht worden sind, sie zu diesem Gewaltacte zu verleiten, dann empfinde ich es doppelt schmerzlich, daß gerade meinen Bruder das Loos treffen muß, ihr Gegner und Ankläger zu sein. Wenn ich es wäre, die von ihnen angegriffen würde, ich glaube, die Waffe in meiner Hand würde zittern, selbst wenn ich sie zu erlaubter Selbstvertheidigung führte.“

„Willst Du Deinem Bruder einen Vorwurf daraus machen, daß er Unrecht von sich abwehrt?“ fragte Paula.

„O gewiß nicht!“ entgegnete Marie schnell. „Aber ich beklage die Nothwendigkeit, die ihn dazu zwingt.“

„Und glaubst Du, daß er sie weniger beklagt als Du, Mütterchen?“ fragte Hanna freundlich. „Ich bin sicher, sein Herz sehnt sich, Milde walten zu lassen. Ich zweifle nicht daran, daß er jede Schonung üben wird, die mit seiner Sicherheit vereinbar ist.“

„Welch ein beredter Anwalt das Kind ist!“ rief Paula, auf deren Antlitz sich trotz der kritischen Lage des Augenblicks ein leises Lächeln zeigte. „Schon zum zweiten Male habe ich heute Gelegenheit, sie in dieser Eigenschaft zu bewundern.“

Das Geräusch, welches mit jeder Minute an Stärke und Deutlichkeit zunahm, schnitt jede Entgegnung ab. Jetzt waren es nicht mehr unentwirrbare Töne; man unterschied deutlich den Tritt vieler Füße und den Schall zahlreicher Stimmen.

„Es ist unmöglich, diese Ungewißheit länger zu ertragen,“ rief Paula nach einer abermaligen längeren Pause des Schweigens. „Gehen wir hinab! Wenn wir über die Wiese hinter dem Garten gehen, können wir ohne Gefahr die Anhöhe erreichen, von der wir einen Ueberblick über die ganze Gegend haben werden. Niemand wird uns sehen, wenn wir die Landstraße vermeiden.“

Hanna hatte, noch ehe ihre Gefährtin zu Ende gesprochen, sich bereits zum Gehen fertig gemacht. Mit zitternden Händen hüllte sie auch Marie in einen weiten dunklen Shawl und führte dann ihre Gäste schweigend und im Dunkeln die Treppe hinab. Unten im Vorsaal wachte Frau Hörig mit einigen ihrer handfestesten Mägde. Nur widerstrebend gab sie dem Verlangen nach, den jungen Damen, die ihrer Obhut anvertraut waren, das Haus zu öffnen und sie ohne Schutz in die Nacht hinaus zu lassen. Sie blieb noch längere Zeit unter der Thür stehen, um ihnen ihr Vorhaben auszureden. Erst als sie sich überzeugt hatte, daß rings um das Haus alles still und ruhig war, ließ sie sie gehen. Schweigend durchschritten die drei Gefährtinnen den Garten, der frisch und friedlich dalag, und traten durch eine kleine Pforte auf die thaufeuchte Wiese hinaus. Die Anhöhe, von welcher Paula gesprochen, war bald erreicht. Der Gipfel derselben war mit einem dichten Buschwerk gekrönt, über welches ein paar alte Nußbäume ihre dichtbelaubten Kronen erhoben. Der tiefe Schatten der Bäume, sowie die niedrige Mauer, welche das Gesträuch bildete, dienten den Mädchen zum Verstecke, von wo aus sie, ohne selbst gesehen zu werden, den ganzen Schauplatz des Kampfes überblicken konnten. Paula’s Augen waren die schärfsten; sie war daher die Erste, welche die Situation zu überblicken vermochte.

„Das können nicht allein die Arbeiter der Fabrik sein,“ sagte sie schnell und athemlos sprechend, „es sind ihrer zu viele dazu. Der ganze Pöbel der Umgegend scheint sich versammelt zu haben; man hat es augenscheinlich auf eine große Demonstration gegen das verhaßte Preußenthum abgesehen. – Hört! Was mögen, diese Schläge zu bedeuten haben?“

„Es klingt, als ob sie Steine gegen das große Thor des Fabrikhofes würfen,“ sagte Marie zitternd.

„Das kennzeichnet diese ganze elende Horde,“ rief Paula mit verachtungsvoll zuckender Lippe. „Sie wagen sich nicht heran – ein paar muthige Männer halten die ganze Rotte in Schach.“

Die dumpfen, dröhnenden Schläge wiederholten sich. Bei jedem fürchteten die athemlos Lauschenden, das Krachen des zersplitterten Holzwerkes zu hören. Sie mußten sich sagen, daß das Thor der Gewalt dieser Stöße nicht lange widerstehen konnte.

„Er ist zu langmüthig; er geht zu schonend mit ihnen um,“ rief Paula zürnend. „Sie haben laut genug zu ihm gesprochen, diese elenden Bursche. Jetzt sollte er seine Büchse ihnen antworten lasten.“

„Sein Zögern stellt ihn in meinen Augen um so viel höher,“ entgegnete Hanna leise. „Ich begreife und billige es, daß er erst im letzten Augenblicke zu diesem schrecklichen, äußersten Mittel greifen will.“

„Das heißt aber mit zu ungleichen Waffen kämpfen. – Kennen sie ein Bedenken? Was, meinst Du, würde sein Loos sein, wenn er in ihre Hände fiele?“

Hanna antwortete nicht; Paula’s Worte riefen entsetzliche, grauenvolle Bilder in ihr wach. Schaudernd verbarg sie ihr Antlitz in ihren bebenden Händen, und als ob ihre Füße die Kraft verloren hätten, sie zu tragen, kauerte sie auf den Boden zu Mariens Füßen nieder.

Immer heftiger und schneller folgten die Schläge auf einander, und immer lauter und drohender tönten die wilden Rufe der Angreifer. Da endlich – selbst Hanna hatte sich der Erkenntniß nicht länger verschließen können, daß ernste Gegenwehr jetzt dringend geboten sei – tönte der erste Schuß aus der Fabrik, dem in rascher Folge mehrere andere aus dem abseits gelegenen Wohnhause antworteten. Die Wirkung ließ nicht auf sich warten. Ein wilder, langanhaltender Schrei, wie der einer Heerde verwundeter Raubthiere, ließ sich hören – dann trat eine plötzliche Stille ein. Sie dauerte nur wenige Augenblicke, aber in diese Pause hinein tönte von Elmsleben her der schrille Pfiff der Locomotive, ein Ton, der das Herz der drei Mädchen mit freudiger Hoffnung erfüllte.

„Der Zug! der Zug! Ich sehe ihn,“ rief Paula. „Wie eine Schlange windet er sich längs der Höfe hin. Die Retter sind da. Fasse Muth, Hanna! Marie, trockne Deine Thränen! Jetzt ist er gerettet.“

Sie hielten sich umschlungen, weinend vor Freude. Aber eine bange Stunde mußte noch vergehen, ehe die Retter wirklich erschienen. Und während dieser Zeit kam ihnen mehr als einmal die Befürchtung, sie würden zu spät kommen.

„O, wenn sie erst da wären – wenn sie da wären!“ Und Paula, deren Muth und Zuversicht sich mit der Nähe der Hülfe wieder eingestellt hatte, antwortete tröstend und hoffnungsvoll, und ihre frische helle Stimme klang erweckend und belebend den Verzagenden in’s Ohr.

„Das Schießen muß unten in Elmsleben zu hören sein – es wird ihnen verkünden, wie nothwendig hier ihre Hülfe ist,“ sagte sie. „Sicherlich werden sie keine Minute verlieren. Und die Gewißheit, daß Hülfe naht, wird unsere armen Belagerten zu tapferem Ausharren ermuthigen. Jetzt dürfen wir nicht mehr klagen – jetzt bin ich eines guten Ausgangs sicher.“

Sie war, die dicken Aeste eines Nußstrauches wie eine Leiter benutzend, emporgestiegen, um besser ausschauen zu können. Umwogt von Laubwerk stand sie da; ihr hübscher Kopf ragte darüber hervor, und die Arme griffen, hoch erhoben, in die Aeste eines Baumes. Von der Fabrik her tönten die Schüsse und dröhnten die Würfe in immer kürzeren Pausen. Das Krachen des Holzwerks und das Triumphgeschrei, das jeden errungenen Vortheil begleitete, klangen immer lauter, immer unheilverkündender zu ihnen herüber.

„Wie entsetzlich das klingt! Ist noch nichts zu sehen, Paula? – nichts? – o Gott, wenn sie zu spät kämen!“

„Muth, Muth! – wenn ich sie erst sehe, dann sind sie auch in wenigen Minuten hier.“

„Welch’ eine Truppengattung mag es sein – Infanterie?“

„Nein, Cavallerie, Dragoner.“

Sie wandte ihr Gesicht ab, denn sie fürchtete, daß ihre Gefährtinnen trotz des unsicheren Dämmerlichtes ihr Erröthen wahrnehmen könnten.

„Woher wissen Sie das, Paula?“ fragte Marie.

„Durch den Landrath. Es handelte sich um die nothwendigen Stallungen; sie sind ihm zur Verfügung gestellt worden. Es wurde alles telegraphisch abgemacht.“

„Vielleicht führt Richard, mein jüngerer Bruder, das Commando,“ sagte Marie.

Es erfolgte keine Antwort, aber Paula blickte eifriger als je in die Richtung von Elmsleben hin.

„Noch immer nichts zu sehen, Liebe?“

„Nein, aber glaubt mir, jetzt kann es nur noch wenige Minuten dauern.“

Wieder herrschte eine Weile Schweigen. Dann sagte Marie:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_803.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)