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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Katschgar im Thianschangebirge beobachtete. Diesen Kämpfen, nicht aber den Wölfen schreibt letztgenannter Forscher die auffallende Menge von Schädeln zu, welche man am Fuße steil abfallender Felsen findet, woselbst sie in Sonne und Regen bleichen und allgemach vermorschen und verwittern. Wären es die Wölfe, welche sinnbethörenden Schrecken unter den Archaren verursachten und sie veranlaßten, in die Tiefe zu springen, so würde man, was nicht der Fall, viel öfter als die Schädel von alten Böcken solche von Schafen und Jungböcken am Fuße der Felsen auflesen können; denn beide würden sicherlich weit eher als jene das Opfer jenes Schreckens und mittelbar der Wölfe werden. Aber man stößt fast nur auf die Ueberbleibsel alter Böcke und wiederum öfter auf die Reste mittelalter, also schwächerer, als auf solche ganz alter, gewaltiger Recken. Ueber der Stelle, wo man die Schädel regelmäßig, zuweilen in Haufen antrifft, befinden sich stets flache, ebene, mit Gras bewachsene Stellen, wie sie von den Archaren ausgesucht werden, um dort sich zu äßen: diese Stellen sind die Kampfplätze, auf denen gerungen und gestritten wird um Leib und Leben, Sieg oder Tod. Zuweilen mag es geschehen, daß der anprallende und seinen Gegner abdrängende Sieger ebenfalls mit in den Abgrund gerissen wird; denn man findet zuweilen zwei Schädel neben einander, während die übrigen meist einzeln liegen.

Erst nachdem die Brunftzeit vorüber, enden diese nebenbuhlerischen Kämpfe, und derjenige Widder, welcher aus allem Streite als Sieger hervorgegangen ist, führt von jetzt an bis zur Satzzeit die nunmehr vereinigte Heerde der Böcke und Schafe, von jenen vielleicht beneidet, aber doch fernerhin unangefochten, von diesen mit vollstem Vertrauen belohnt. Sobald er zu laufen beginnt, stürzt die Heerde ihm blindlings nach. Er geht beim Wechseln dem Zuge voran, bleibt von Zeit zu Zeit stehen, ersteigt, um eine weitere Uebersicht zu gewinnen, höhere Aussichtspunkte, und sorgt in jeder Beziehung für das Wohlergehen seiner Unterthanen. Gemeinsame Ziele, Gefahren und nothgedrungene Entbehrungen halten solche Heerde bis zum nächsten Frühling zusammen. So gleichmüthig der Archar den Winter erträgt: ohne hart von ihm mitgenommen zu werden, übersteht er denselben nicht. Mag auch die rasende Windsbraut, welche Schnee vom Himmel zur Erde und von der Erde zum Himmel schleudert, über ihn wegbrausen, ohne ihn zu schädigen: der Schnee, welchen sie mit sich und zu seinem Stande führt, wird ihm lästig und gefährlich, oft verderblich. Nur ausnahmsweise zwar deckt derselbe ihm alle Nahrung zu und zwingt ihn zu fasten, zu darben, zu hungern, nicht allzu selten aber ebnet er dem gierigen Wolfe Wege und Stege bis zu seiner Felsenburg herauf, wird, wenn Thauwetter und Frost mit einander wechseln, dem leichteren Räuber zur Brücke, auf welcher dieser ungehemmt dahinschreitet, wogegen er bei jedem Schritte die schwache Kruste eindrückt oder schon durch deren Glätte in vollem Laufe sich behindert sieht, und bringt so seinen schlimmsten, weil unablässigsten Feind über ihn. Solche Gefahren überwinden gesellte Thiere leichter als einzeln lebende, deren Wachsamkeit endlich doch einmal erlahmen kann, wenn Uebermüdung oder Ermattung infolge des Mangels ihre Rechte fordern, und dies mag der hauptsächlichste Grund sein, daß jene Verbände während des ganzen Winters nicht sich trennen.

Ungefähr sieben Monate nach der Paarung, durchschnittlich im Anfange des Mai, lammt das Argalischaf, und zwar bringt es zuerst regelmäßig nur ein Junges, später deren zwei zur Welt. So behaupten die Kirgisen, und unsere eigenen Beobachtungen stehen hiermit wenigstens nicht im Widerspruche; denn ich sah Schafe mit einem Lamme und andere, welche deren zwei führten. Schon vor der Geburt haben die trächtigen Mutterschafe von den Böcken oder den Heerden überhaupt sich getrennt, und so lange ihre Lämmer klein sind, vielleicht so lange sie noch saugen, gesellen sie sich jenen nicht. Die Lämmer sind merklich größer als Hauslämmer, nach meinem Bedünken mindestens ebenso groß, wie ein Hirschkalb, und vorherrschend graufahl, auf dem Vorderkopfe und Schnauzenrücken dunkelgrau, auf dem Spiegel graulich-isabell, auf der Unterseite lichtgelb gefärbt. Noch am Tage ihrer Geburt laufen sie mit der Mutter davon, und einige Tage später thun sie es ihr im Springen und Klettern fast gleich. Werden Mutter und Kind in den ersten Tagen nach der Geburt des letzteren durch Menschen oder Raubthiere beunruhigt, vielleicht durch einen spürenden Wolf erschreckt, so übernimmt das Mutterschaf die Deckung des Lammes, indem es sich dem bösen Feinde scheinbar preisgiebt, langsam vor ihm herläuft, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ihn so von dem Lamme ablenkt, durch längere Jagd warm macht und in die Irre führt, worauf es zu dem Lamme zurückkehrt. Dieses hat sich beim Erscheinen des Feindes niedergelegt und dicht an den Boden geschmiegt, sodaß selbst Kopf und Hals letzterem aufliegen. In dieser Lage verharrt es unbeweglich bis zur Rückkehr der Alten, bleibt auch, wenn ein zweiter Feind es bedroht, sehr festliegen und springt erst auf, wenn die Gefahr in seine unmittelbare Nähe, gekommen ist.

Es vertraut offenbar auf die Gleichfarbigkeit seines Felles und des Bodens und thut wohl daran; denn es wird in dieser Lage, wie ich oben mich ausgedrückt habe, zu einem lebendigen Steine, welcher im bunten, verwirrenden Durcheinander wirklicher Steine und größerer und kleinerer Felsbrocken manches Raubthierauge täuschen mag. Daß ihm die Täuschung nicht immer gelingt, daß das Auge eines Steinadlers sich nicht beirren läßt, haben wir oben gesehen; daß die feine Nase eines Wolfes oder Fuchses ebenso sicher den lebenden Stein unter den todten herausfinden wird, läßt sich annehmen: die Gebirge müßten, wäre beides nicht der Fall, weit stärker von Archaren bevölkert sein, als sie in Wahrheit sind. Wie alle jungen Schafe sind auch die Argalilämmer allerliebste, muntere, spiellustige, bewegungsfrohe Geschöpfe, von Hauslämmern überhaupt nur durch Größe und Fell, nicht aber durch Sein und Wesen unterschieden. Sie wachsen rasch heran und sind bereits im nächsten Jahre fast ebenso groß wie die Alten, jedenfalls vollkommen befähigt, ohne deren Mithülfe ihre Wege durch’s Leben zu wandeln. Doch beenden sie ihr Wachsthum nicht vor dem vierten Jahre, und die Gehörne der Böcke nehmen auch dann noch immer etwas zu.

Der ausgewachsene Argali ist ein Bild urwüchsiger Kraft und Stärke. Seine Bewegungen sind wundervoll. Niemals bemerkt man, daß sich das gewaltige Thier übereilt, ebenso wenig, daß es in Verlegenheit geräth. Es wetteifert im Laufen mit einem Hirsche, im Klettern mit einer Gemse, vielleicht mit dem Steinbocke. Ueber die Ebenen und Hügel zieht der Archar in scharfem, stätigem Trabe, ohne befürchten zu müssen, daß ihn das unter dem Reiter schnaufende Pferd einhole, an den Felsen hinauf oder hinab klimmt er mit unvergleichlicher Bedachtsamkeit, Sicherheit und Gewandtheit. Er sucht sich nicht erst einen bequemen Pfad, sondern findet solchen überall. Das Schaf, welches ich erlegte, stieg langsam über felsige Steilungen herab, obgleich letztere aussahen, als ob sich kaum ein leichter Klettervogel, nicht aber ein so gewichtiges Säugethier an ihnen zu erhalten vermöge, und sprang von einem Steine oder Felsblocke zum andern mit so leichten, federnden Sätzen, als ob es auf der Ebene dahinschritte. Der gewaltige Hornschmuck des Bockes hat auch in der Steppe der allverbreiteten Fabel Boden gegeben, daß der Argali bei Gefahr aus bedeutenden Höhen hinab auf das Gehörn sich stürze; die Fabel ist jedoch eben nur eine solche, nicht aber Wiedergabe bestimmter Beobachtung. Przewalski sah Argaliböcke ohne Bedenken und Schaden zehn Meter tief hinabspringen und immer auf die Füße fallen, beobachtete auch, daß sie, wie Steinböcke und Gemsen zu thun pflegen, an etwas geneigten Felsen hinabglitten, um ihren Fall zu hemmen. Ein derartig befähigtes und geübtes Thier findet auch in den schwierigsten Lagen noch Wege und Stege, um ungefährdet in die Tiefe hinabzugelangen. Stürzt ein Argali wirklich über Felsen hinab, wird er von einem Nebenbuhler in den Abgrund geschleudert, so rettet ihn auch sein gewaltiges Gehörn nicht vor dem Tode: er würde oder müßte das Genick brechen, wenn er mit demselben die Wucht des Falles seines schweren Leibes aufhalten wollte.

Mich wundert, daß Kirgisen und andere Wanderhirten der Steppe noch nicht daran gedacht haben, Archare zu zähmen und sie zu Hausthieren zu gewinnen. Absichtlich brauche ich den Ausdruck „gewinnen“; denn ein Gewinn würde es sein, gelänge es, dieses Geschöpf unter die Botmäßigkeit des Menschen zu beugen. Die Möglichkeit des Gelingens darf von vornherein zugestanden werden. Jene Argalllämmer, welche die uns gleitenden Kirgisen gefangen halten, versprachen viel, weit mehr als ich erwartet hatte. Auf unseren Wunsch befahl General von Poltoratsky, ihnen in Gestalt von Hausschafen und Hausziegen Ammen zu geben. Dem Befehle wurde selbstverständlich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 756. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_756.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)