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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


eine kleine Falte bildete sich zwischen ihren Brauen, als sie ihre Blicke auf einer ältlichen Dame ruhen ließ, die ohne Ahnung, daß man sie beobachtete, gebeugt vor einem Teleskope stand, durch welches sie angelegentlich in die Gegend hinausblickte. Sie war von dem, was sie erschaute, augenscheinlich nicht recht befriedigt. Mehrmals richtete sie sich mit allen Zeichen einer starken Mißbilligung empor, um dann immer wieder von Neuem ihre Beobachtung aufzunehmen. So sehr war sie in dieselbe vertieft, daß sie den Schritt nicht hörte, der sich ihr näherte. Erst als eine kleine, feste Hand sich auf ihre Schulter legte, fuhr sie erschreckt empor und blickte verwirrt um sich.

„Guten Morgen Tante!“ sagte das junge Mädchen, während sie sich herabbeugte, um die Wange der Erschrockenen zu küssen. „Ich sehe mit Vergnügen, daß Du Dich heute derselben Beschäftigung hingiebst, die Du gestern bei mir so unaussprechlich lächerlich fandest. – Nun? ist mein neues Teleskop nicht ein treffliches Instrument? Ich glaube, man könnte damit die Thürme von Straßburg sehen, wenn die Höhen von Elmsleben sich nicht dazwischen schöben.“

„Vraiment, mon enfant!“ setzte die Alte die Conversation in ihrer Muttersprache fort, und ein gewisser gereizter Ton mischte sich in ihr feines Französisch, „Vraiment, es gewährt Einblick in die Nähe und Ferne. – Mir hat es auch die Augen geöffnet. Ich sehe heute ganz klar, weshalb die Dampfschlöte von Elmsleben, die Du bisher stets so widerwärtig gefunden hast, auf einmal von so großem Interesse für Dich sind.“

Sie hatte in sichtlicher Erregung gesprochen und schloß ihre Worte mit einem ärgerlichen Kopfnicken. Dann wandte sie sich der Thür zu, um das Zimmer zu verlassen, kehrte aber, als ihre Nichte keine Miene machte, sie zurückzuhalten, auf halbem Wege wieder um.

„Ich habe es immer gesagt: in Dir ist kein Funke nationalen Stolzes. Das ganze Land, die ganze Bevölkerung, hoch und niedrig, vereinigt sich, den frechen Eindringlingen, den rohen Barbaren ihren Haß und ihre Verachtung fühlbar zu machen – nur Du, Du allein kommst ihnen mit offenen Armen entgegen. – Schon in Baden hat es unseren Unwillen erregt, wenn wir sehen mußten, wie diese preußischen Officiere, diese steifen, ungelenken Pickelhauben Deine liebsten Tänzer waren, wie Du sie Deinen Landsleuten, selbst Deinem Vetter Charles vorzogest. Glaubst Du, daß wir so einfältig waren, nicht den Grund zu errathen, weshalb Du uns vor drei Wochen so plötzlich im Stiche ließest? Glaubst Du, wir sahen nicht ein, daß Dir Baden nur deshalb auf einmal so unerträglich und Deine Sehnsucht nach Deiner Freundin so groß geworden war, weil ihr Gut dicht bei Straßburg liegt, wo Du die angeknüpften Liebeleien mit diesen Preußen ungestört fortsetzen konntest?“

Das Gesicht des jungen Mädchens, welches bis dahin sein ruhiges Lächeln bewahrt hatte, wurde bei dieser Anschuldigung von einer leichten Röthe überflogen. Mit stolz erhobenem Haupte trat sie ihrer Tante näher und unterbrach sie in der Fortsetzung ihrer Rede.

„Du vergißt, daß es die Tochter Deines Bruders ist, welche Du durch Deine unwahren und ungerechten Anschuldigungen beleidigst,“ sagte sie unwillig. „So lange sich Deine Vorwürfe gegen das wenden, was Du meinen Mangel an Patriotismus nennst – so lange kann ich lachen. Wenn Du aber beginnst, meine Sittlichkeit und meinen Charakter anzugreifen, dann hat meine Geduld ein Ende. – Freilich,“ fuhr sie nach einer Pause fort, und wieder erschien das leise spöttische Lächeln auf ihren Lippen – „freilich weiß ich wohl, daß die Schuld Dich nur zur Hälfte trifft. Ich kenne den Einfluß, der Dich antreibt, meine Schritte zu bespähen und meinem Thun stets die schlechtesten, niedrigsten Motive unterzulegen. Ich weiß, daß Du Dir trotz Deiner fünfundfünfzig Jahre noch niemals ein eigenes Urtheil gebildet hast – daß Du Dir Deine Ansichten, Deinen Geschmack und Dein Thun stets von Anderen vorschreiben läßt. – Aber trotzdem –“

„Ich bin es gewöhnt, von Dir als eine einfältige alte Person behandelt zu werden, die nicht im Stande ist, selbstständig zu denken und zu urtheilen,“ fiel die Tante ihr in ärgerlichem Tone in's Wort. „Zwar weiß ich, daß ich an Geist und Energie weit hinter meiner Schwester Clemence zurückstehe, aber so dumm bin ich denn doch nicht, daß ich aus gewissen Folgen nicht auf die Ursachen zurückschließen könnte. Glaubst Du, es ist mir nicht gestern schon aufgefallen, daß Du mit ganz ungewöhnlicher Freundlichkeit jenem preußischen Abenteurer entgegengekommen bist, der sich hier unter uns niedergelassen hat? – Willst Du es leugnen, daß der kleine Dienst, welchen er uns leistete, durchaus nicht des Aufhebens werth war, welches Du davon machtest – leugnen, daß Du freundlicher und achtungsvoller zu ihm sprachst, als jemals zu Deinem eigenen, leiblichen Vetter, dem armen Charles?“

„Leugnen?“ fragte das junge Mädchen stolz. „Weshalb sollte ich irgend eine meiner Handlungen leugnen? Ich bin bereit, jede vor der ganzen Welt zu vertreten. Und deshalb mache ich kein Hehl daraus, daß ich gesonnen bin, unserm neuen Nachbar jede Freundlichkeit zu erweisen, die in meinen Kräften steht, jeden Dienst zu leisten, den ich ihm zu leisten im Stande bin. Denn abgesehen davon, daß er einer Nation angehört, für welche ich warme Sympathien hege, so hat auch Alles, was ich von dem Manne gehört habe, mir eine aufrichtige Achtung eingeflößt, und seine bedeutende Persönlichkeit und die feste, kraftvolle Männlichkeit seines Wesens einen sehr angenehmen Eindruck auf mich hervorgebracht. Du darfst nicht die Hände zusammenschlagen, Tante, und die Augen gen Himmel richten – ich weiß sehr wohl, was ich spreche, und finde daran gar nichts Unstatthaftes, daß ich Dir noch ferner gestehen will, wie mir der Mann schon ganz außerordentlich gefallen hat, als ich ihn von den Fenstern unseres Coupés aus die Landstraße entlang reiten sah. Ich wußte nicht, wer er war, aber seine ganze Erscheinung, die Art wie er zu Pferde saß und seinen muthigen Braunen zügelte, sein ernstes Gesicht und die aufrechte Haltung seines Hauptes – dies Alles paßte so gut zu dem Bilde, das ich mir von ihm gemacht hatte, daß ich aufrichtig wünschte, in ihm unsern neuen Nachbar zu finden. Und als er uns später seinen Namen nannte, nachdem er uns so ritterlich zu Hülfe gekommen war und unsere unbändigen Pferde mit so kräftiger Hand zum Stehen gebracht hatte – war es da nicht natürlich, daß ich mich über die Erfüllung meines Wunsches freute und die feste Hand freundlich schüttelte, die mir einen so wesentlichen Dienst geleistet hatte? – Ich muß gestehen, Tante, ich fand dies so selbstverständlich, daß ich mich wunderte, als Du Deine Dankesworte ihm so knapp zumaßest.“

„Ich bin eben älter und kaltblütiger als Du, mein Kind, und lasse mir durch einen hoch getragenen Kopf und eine lange Gestalt nicht so leicht imponiren. Kannst Du es mir übrigens verdenken, Paula, daß Deine preußischen Sympathien mich ängstlich und sorgenvoll machen? Du kennst die Ansichten unserer Familie. Du weißt, welche Wünsche man in Betreff Deiner hegt. Nun denke Dir meinen Schreck, als ich, da ich Dich hier aufsuchen will und nicht finde, einen Blick in das Teleskop werfe. Da steht die Fabrik dieses Preußen vor mir, so nahe, als sollte ich sie greifen. Da sehe ich den Fabrikhof, die hohen Essen der Spinnerei, den Garten und dahinter das Wohnhaus mit dem Balcon und dem Zeltdache darüber. Ich frage Dich, soll mich das nicht erschrecken?“

„Ich weiß nicht, was daran zu erschrecken ist, Tante. Das Alles sieht sehr gut, sehr wohlerhalten und sehr stattlich aus. Und ohne Zweifel hätte es Dir noch besser gefallen, wenn es Dir gleich mir gelungen wäre, den Besitzer zu erschauen. Denn,“ fuhr sie nach einer Pause fort, und ein Lächeln zog über ihr Gesicht, „Du hast einen viel zu feinen, scharfen Blick und einen zu guten Geschmack, um nicht auch Wohlgefallen an unserem neuen Nachbar zu finden.“

„Niemals, Paula, niemals! Ich kann diese steifnackigen Preußen nicht leiden.“

„Du sprichst das nach, weil Tante Clementine es Dir vorgesprochen hat,“ entgegnete die Nichte überredend. „Ich kenne Dich zu gut, um nicht zu wissen, daß ein männlicher Mann Dir auch besser gefällt, als solch ein zierliches Püppchen, wie Vetter Charles oder die Herrchen, mit denen er uns in Baden bekannt machte. Sieh, das gefällt mir an unserem preußischen Nachbarn am besten, daß jede seiner Bewegungen ihn als ganzen und wahren Mann kennzeichnet. Seiner starken Hand merkt man an, daß sie das, was sie ergriffen, auch festzuhalten versteht.“

„Du hast gestern eine ungemein scharfe Beobachtungsgabe entwickelt, Kind! Von allen den Vorzügen, die Du mir da

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 712. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_712.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)