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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Aehnlich festgekettet an Scholle und Erde sind in Westfalen die großen Hofbesitzer, die „reichen Bauern“. Sie lockte und verlockte auch kein „Herr Agente“. Sie, die in den Ebenen des Teutoburger Waldes und in den Thälern der Mindenschen Bergkette ihr Heim besaßen, ihre gesegneten Feldfluren und Wiesen ihren Eichenkamp und ihr Torfmoor, sie hingen ebenso fest und treu am Lande der rothen Erde, wie jene Armen, denen dieser Boden nur Binsen und harte Reiser bot.

Sehr reich – und sehr sparsam zugleich – war auch der große Bauerngutsbesitzer Wedemeier, dessen Hof in der lachenden und herrlichen Ebene liegt, wo die Mindensche Bergkette sich zu den flachen Grenzen des Osnabrückschen Landes hinzieht. Fast überall von dieser Ebene aus sieht man die Thürme des alten Bisthums Osnabrück aus dem Thale der Hase aufragen, sieht weit hinein in blühendes und gesegnetes Land, auf zahllose Dörfer, Häuser und Hütten. Die Hauptberge Westfalens, über deren Boden reiche historische Erinnerungen an Wittekind und seinen argen Feind hinfluthen, begrenzen jene Ebene mit. Da ist die Kuppe des Reinebergs bei Lübbecke, wo noch die alten Linden grünen, auf den Trümmern von Wittekind’s verfallener Königsburg. Weiterhin ragt der Limberg mit seiner Ruine auf, aus deren epheuumsponnenen Thurmfenstern noch von Zeit zu Zeit „das perlengeschmückte und schleierumflossene Haupt von Prinzessin Wittekind“ auftauchen soll. Und zu Füßen dieses alten Burgberges liegt in tiefem Waldesdunkel Krollage, das Stammhaus eines der ältesten Adelsgeschlechter Westfalens, erbaut an der Stätte, wo Karl der Große einst sein Feldlager aufgeschlagen hatte, um droben in der Burg nun sicher seinen alten, ihm so oft entschlüpften Feind, den Sachsenherzog Wittekind, zu fangen.

Daß es zu diesem glänzenden Abschluß einer Kriegsfehde nie gekommen ist, darauf sind die Bauern Westfalens noch so stolz, als hätten sie in eigener Person und nicht ihre Vorfahren den Anschlag verhindert und Kaiser Carolus überlistet.

Jedenfalls hat dies aus jenen alten Bauerhöfen noch zur Zeit übliche Berauschen an Held Wittekind’s zäher Widerstandskraft Einfluß auf die Charaktere. Der Dichter nennt die Menschen dort „stark wie die Eichen ihrer Wälder“; manche Hofmutter, die unter ihres Eheherrn Starrsinn zu leiden hat, sagt kopfschüttelnd „Däs macht dä Abkunft von dem König Weking“, und am wenigsten poetisch fassen die armen Haideleute und Törfer die zähe Stärke der Reichen auf, von der sie – wie es heißt – ein Liedchen zu singen wissen. Die flüstern leise: „Sä sind struppig un borstig wie unsere härtesten Reiser in der Haide.“

Die Haide, von welcher der reiche Bauer Wedemeier seinen festen, störrischen Sinn entlehnt haben sollte, grenzte gen Westen wenigstens nahe genug an sein Gebiet, um von ihrem rauhen Wuchs profitiren zu können. Dieses lief da in einem üppigen, reich bewässerten Wiesengelände aus, dessen fette Halme mancher vermagerten Haideziege heimlich aufhalfen.

Diese Haide, wie so oft in Westfalen angrenzend an gutes Bodenland, dehnte sich fast zwei Stunden weit hin. Sie war ebenfalls von vielen Armen als Heimathstätte erkoren. Ginster und Binsen wachsen da besonders gut, und die Striche sumpfigen Moorlands, „Bruch“ geheißen, die vielfach die braune unfruchtbare Strecke durchschneiden, liefern das Feuerungsmaterial, den Torf, billiger. Wo nun aber gar, wie eine Oase in der Wüste, in jener Haide dürrem Boden ein Stückchen Grün aufsproßt, da scheint’s den armen Leuten, als sei Gottes Segen extra für sie vom Himmel niedergefallen. Und auf diesen kleinen Flecken frischen Grüns, vor denen Naturforscher und Geologen oft grübelnd über das Räthselhafte des Ursprungs stehen, da finden sich, unbekümmert um dieses „Woher“, in freundschaftlichem Uebereinkommen alle Ziegen und Hühner der Insassen der umliegenden Lehmhütten zusammen. Dahin flüchten der Kiebitz und die Moorente in des Hungers ärgster Bedrängniß ebenfalls. Oft kahl abgefressen an einem Tage, setzt gleichsam über Nacht sich wieder Halm an Halm, und dem denkenden Geist, der dieses Wunder betrachtet, will’s erscheinen, als ginge es mit diesen Oasen ähnlich zu. wie mit den sieben Broden und Fischen, von denen die Bibel berichtet.

Noch einen Reiz und Zauber hat die Haide: Sinkt Abends die Sonne mit glühend rothem Licht an ihrem dunklen Saume nieder, dann ist das öde Land nicht selten mit einem gleichen Reiz umwoben, wie das endlos weite Meer mit seinem farbenleuchtenden Meeresspiegel. Um diese Stunde stehen und sitzen alle die stets vor den Thüren ihrer Hütten, die meist den Tag über in dumpfiger Stube Binsen zu Matten verflechten und Besen binden. Die Purpurflammen, die goldumsäumten Wolkengebilde zu betrachten die mitunter wie eine farbenglühende Fata Morgana über den kahlen Boden hinziehen – das ist der Haideleute Zerstreuung, und diese prachtvollen, glänzenden Himmelsbilder sind ihre Entschädigung für viele Armseligkeit der Erde.

Ernst, sinnend sieht man sie da stehen auf dieses spröden Bodens einsamer Scholle, verharrend dort, bis der letzte Lichtschein verglühte und der Abenddämmerung Schatten die Fernen des Himmels und der Erde in unbestimmten Umriß zusammenweben. Wer solche Abendstunden in der Haide verlebte, der meint den Zauber zu kennen, der ihre Bewohner wie mit Ketten an die Scholle bindet. Niemand aber beobachtete wohl die Leute, ohne auch die Erkenntniß mit von hinnen zu nehmen, daß sie ein Glück, ein Gut besitzen, nach dem der Reichste oft vergebens strebt: die Zufriedenheit.

Mit dieser Zufriedenheit geht nicht selten eine tiefe, wahre Frömmigkeit Hand in Hand, ein Glaube, von dessen Macht und Stärke die Worte zu gebrauchen wären: „er vermag Berge zu versetzen“.

Wo des reichen Hofbauern Wedemeier ausgedehntes Moorgebiet, der „Düsternbruch“ genannt, der reiche Torfausbeute liefert, mit seinem dunkeln Saum an das Wiesenland stieß, da hatte er, gleich wie im Felde die Marksteine gesetzt werden, eine Baumreihe als Grenze pflanzen lassen. Eine Baumreihe! – Der reiche Mann konnte, wie die Armen mit Genugthuung dachten, auch nicht Alles erreichen, was er wollte. Die sich überall und leicht einbürgernde Weide kam dort am Moore nur krüppelhaft fort, und die Buchen zeigten einzig ein faserig auslaufendes Gestrüpp. Es war demnach nur eine Hecke geworden, und hätte nicht hier und da das verwehte Samenkorn einer wilden Winde Wurzel gefaßt und ihre weißen und rosa Blüthen, ihre üppigen Ranken jene klägliche Pflanzung geschmückt, die Hecke hätte einen noch elenderen Eindruck gemacht. Wie aber auch diese Idee des reichen Mannes verunglückte, er sagte ruhig zu den Haideleuten: „Als Fingerzeig genügt der Wuchs, und Ihr habt Euern Kindern nun zu lehren: ,Dahinter liegt eines fremden Mannes Land, das ihr mit euern Ziegen zu respectiren habt.'“

Die Haideziegen sind wie die Hunde. Sie laufen den Kindern nach, die nach dem langhalmigen Ginster und der Palmenbinse suchen, die vorzugsweise gut am Moorrande wächst und sich am besten zu Matten eignet. Reiser von den Büschen zu schneiden, hatten die Kinder Erlaubniß, und da Ginster und Binsen des Düsternbruchs ihre Berühmtheit hatten, so war der Strich des Haidelandes nicht nur von ihnen besonders frequentirt, auch alle gewiegten Besenbinder der Gegend suchten dort ihr Material.

Wehe aber dem, der unter den Binsen- und Ginsterhalmen je einen Vorrath Gras barg, das er der nahen Wiese entnommen hatte – trotz des Fingerzeiges der Grenze! Noch übler daran waren freilich die, deren naschhafte Ziegen die Hecke durchbrachen und auf des reichen Mannes großer Wiese so unbekümmert weideten, wie auf ihren kleinen heimathlichen Oasen. Da tobte und wetterte der reiche Bauer nicht allein – das letzte seiner Rede war auch stets: „Ich gebe Euch der Gerechtsame genug auf meinem Grund und Boden, und braucht Ihr mehr, so hat Staat und Gemeinde für Euch zu sorgen, die auch für mich und meine Klage da sind.“ Die armen Haidebewohner pflegten von diesen beiden Hinweisen auf irdische Hülfe in jenen Stunden der Noth, wo das Gericht sie schon am Zipfel hielt und die Strafe sie bedrohte, mit sehr verständlichem, vielsagendem Augenaufschlag auszurufen: „Gott im Hämmel die Gemeine, un nu gar dä Staat!“, daß mancher ernste Richter kaum seinen Ernst dabei bewahren konnte.

Die Strafe selbst war aber immer eine ernste Sache und Pfändung des Verurtheilten nicht selten ihr Endziel. Der reiche Hofbauer ließ in solchen Fällen dem äußern Anschein nach ruhig die beste Habe einer Haidehütte: „Bett oder Ziege“, über seine Wege und seinen Hof führen. Wußte er doch so sicher, wie das Amen dem Gebete folgt, nun werde seine Anne-Marie Körbe voll Lebensmittel und Milch in Hülle und Fülle täglich zur beraubten

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