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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

„Nein,“ sagte er lachend, „das glaube ich freilich nicht. Die Wilddiebe finden doch wohl ihren Weg in das große Revier, und die Beute an Hirschen, welche die benachbarten Jagdberechtigten davon trugen, zusammengerechnet mit den Wildschäden von ehedem, deckt lange nicht die Kosten des ungeheuren Gitters, das mehrere Quadratmeilen umrahmt. Bei alledem züchtet man auch kein Wild ersten Ranges innerhalb dieser Zäune. Der Edelhirsch, wenn er zur vollen Entwicklung seiner Kraft und Schönheit gelangen soll, muß ungehemmt streifen und hinaustreten können in die Vorberge; vielleicht aber,“ fügte er hinzu, „hat das Gitter auch noch seine Nebenzwecke. Man will das Laubsammeln der Erwachsenen hindern und das Beerensuchen der Kinder controlliren können.“

„Ist es wahr,“ fragte ich, „daß der im vorigen Herbste verstorbene Fürst einmal höchsteigenhändig einem Knaben im Walde einen Sack mit Laub abgenommen und den Inhalt ausgeschüttet hat?“

„Verbürgen,“ entgegnete Hausmann, „kann ich’s freilich nicht; aber man erzählte es allgemein.“

Die Umzäunung des Waldes ist auch für den Touristen höchst unbequem. Auf Richtwege, auf das regellose Umherstreifen über Berg und Thal, darf er sich nicht einlassen. Er läuft sonst Gefahr, plötzlich vor dem Gitter zu stehen und Viertel- oder halbe Stunden weit gehen zu müssen, bis er eine Pforte findet. Er muß den Waldwegen folgen. Das thaten denn auch wir. In sanften Windungen führte uns der Pfad auf die Höhe um eine Einsenkung herum, und nach einstündigem Wandern waren wir auf der Spitze der Grotenburg, am Fuße des Hermanns-Denkmals. Ich hatte das vollendete Standbild noch nicht gesehen. An der Wiege des Denkmals hatte ich allerdings sozusagen als Taufzeuge mit gestanden. Bei der Grundsteinlegung – es sind lange Jahre her – spielten die Gymnasiasten von Detmold, zu denen ich damals gehörte, eine hervorragende Rolle. In altdeutschem Rocke mit übergeschlagenem Hemdkragen, schwarzem Sammtbarett mit weißer Feder, umgürtet von schwarz-rothgelber Schärpe, schritten wir im Festzuge auf die Grotenburg, hinter einer prächtigen Fahne drein, die von Detmolder Frauen gestickt war und die ein braungelockter, kräftiger Commilitone trug. Das war in der Denkmalsgeschichte die Periode des Enthusiasmus. Sie ging rasch vorüber, der Bau stockte und es folgte die Periode der Ironie. In den vierziger Jahren, als der Spott fast die einzige Waffe war, welche der Freiheits- und Einheitsdrang in Deutschland schwingen konnte, schonte der Zug der Zeit auch das Denkmal des Cheruskerfürsten nicht. Wer etwa noch ein paar Jahrgänge des von Otto Lüning[WS 1] redigirten radicalen „Westfälischen Dampfbootes“ besitzt, wird darin zahlreiche Spuren jener Ironie auffinden können. Dann kam die Periode der Vergessenheit. In der Zeit, wo der Czar Nicolaus in Europa, Manteuffel in Preußen und Hannibal Fischer in Lippe dominirte – wer dachte da noch an’s Hermanns-Denkmal – mit Ausnahme von Bandel und von einem kleinen Kreise Getreuer? Erst die Bismarck’sche Realpolitik hat dem Künstler geholfen, seine Idee in die Wirklichkeit zu setzen; der neue deutsche Staat legte sich in’s Mittel und das Erzbild ward fertig.

Diese Perioden der Denkmalsgeschichte flogen an meiner Seele vorüber, als ich dem Heros der deutschen Vorzeit gegenüberstand. Aber hinweg mit den Erinnerungen, sie stören den Genuß an der Gegenwart! Es ist ein wunderbar prächtiger Octobertag – ich will ihn mir gerade hier weder durch historische noch durch ästhetische Krittelei verderben! Zwei Momente stimmen harmonisch zusammen und üben auf den Beschauer, der sich der Stimmung naiv hingiebt, eine mächtige imposante Wirkung: die riesige Männergestalt und der Ort, wo sie steht. In dem gewaltigen Gliederbau, in der Haltung des Cheruskers prägt sich eine feste, selbstbewußte Kraft aus, in der landschaftlichen Scenerie eine ruhige Größe. Von dem hochragenden Leibe des Recken schweift der Blick auf die Baumkronen in der Nähe, die im Winde leise und geheimnißvoll rauschen, von den Baumkronen hinweg durch die Lichtung über das Buschwerk und über die Gipfel der umliegenden Hügel und Berge in die weite duftige Ferne – da ist ein voller glücklicher Einklang!

Wir brachten eine gute Weile am Denkmal zu und genossen die dort herrschende einsame Ruhe in vollen Zügen. Dann stiegen wir wieder abwärts. Das Dorf Heiligenkirchen, unser nächstes Ziel, lag lockend drunten im Thal, die Fahrstraße dehnte sich in weitem Bogen – so kletterten wir auf’s Gerathewohl hinunter, fanden nach einigem Suchen glücklich eine aus dem fürstlichen Gitter führende Pforte und erreichten einen abkürzenden Pfad. Im Wirthshause war Hausmann’s Fuhrwerk richtig angelangt; wir nahmen ein ländliches Mahl ein, dann rollten wir weiter nach Detmold zu. Heiligenkirchen, wie Berlebeck vom Bache durchströmt, verräth schon die Nähe der Residenz. Zwischen den Bauerngehöften sieht man Häuser in modernem Villenstyl und hie und da begegnen uns Menschen in städtischer Tracht und im Promenadenschritt. Fast der ganze Weg von Heiligenkirchen bis Detmold – die Entfernung mag eine Stunde betragen – ist in der That eine reizende Promenade. Ein wunderschöner Baumschlag rechts und links an den Höhen, saftige Wiesen, durch welche der Bach sich hindurchschlängelt, im Grunde – das dehnt sich hin bis unmittelbar an die Häuser der Residenz. Es war mir das prächtige Thal so wohlvertraut aus früherer Zeit und doch so neu in seiner zauberischen Schöne.

„Wie hübsch ist doch das Ländchen!“ sagte ich zu meinem Begleiter.

„Es ist wahr,“ erwiderte Hausmann, „und wie Du, sagen es Alle, die auch andere durch ihre Schönheit berühmtere Theile des deutschen Landes gesehen. Aber,“ fuhr er nach einer Weile, das Pferd zu langsamerer Gangart nöthigend, fort, „ich kann diese Herrlichkeiten kaum betrachten, ohne daß sich die bittere Erinnerung mir einmischte: wie übel auf diesem prächtigen Stück Erde gewirthschaftet ist und gewirthschaftet wird. Wie eine mittelalterliche Burgruine im Walde, so liegt Lippe im deutschen Reich. Von dem etwa zwanzig Quadratmeilen großen Fürstenthum sind etwa vier Quadratmeilen, also ein Fünftheil (vierundzwanzig bis dreißig Millionen Mark an Werth), Domanialgut, und der Rest wird als Zubehör des fürstlichen Domanialgutes betrachtet.“

„Aber meinst Du nicht,“ sagte ich, „daß Eure neue Aera dem ein Ende machen könnte?“

Er zuckte die Achseln. „Du hast unser neues Wahlgesetz gelesen, und ich brauche Dir die Tendenz desselben nicht zu deuten. Die ganze künstliche Zersplitterung der Wählerschaft weist darauf hin, daß man dem, was bisher ungesetzlich prakticirt wurde, jetzt nur die Form der Gesetzlichkeit geben will. Mit den hundertundzwanzig bis hundertunddreißig höchstbesteuerten Wählern erster Classe und den achthundert Wählern zweiter Classe legt man die Masse der zwanzigtausend Wahlberechtigten in der dritten Classe lahm.“

„Sollte denn auch die zweite Classe der Regierung ein so sicheres Contingent stellen?“ warf ich ein.

„Leider nur zu wahrscheinlich.“ entgegnete Hausmann, „denn in ihr stecken fast all die Elemente der Bureaukratie, welche in unserem Verfassungswirrwarr alle Selbstständigkeit verloren haben.“


Unter solchen Gesprächen waren wir in Detmold angelangt. Verweilen konnte ich dort nicht; die Zeit, die ich dem Besuch im Lippische widmen durfte, war um. Ich schied von Hausmann mit herzlichem Händedruck, schickte meinen Reisesack zur Post und machte mich zu Fuß auf den Weg nach Lemgo. Als ich, die Cigarre im Munde, die Hauptstraße der Residenz entlang ging, erinnerte ich mich, daß das Fürstenthum doch eine der Errungenschaften von 1848 nicht verloren hat – die Rauchfreiheit nämlich. Vor dem März war es streng verboten, mit brennender Cigarre namentlich an den Wachtposten vorüber zu gehen. In den Märztagen, als der revolutionäre Luftstrom durch alle Poren drang, kam die komische Scene vor, daß ein Posten einem rauchend vorübergehenden Advocaten die Cigarre aus dem Munde nahm und sie zwischen die eigenen Zähne steckte. Jetzt passirte ich die Hauptwache am Schloßplatz ohne Anstand und nahm die befriedigende Gewißheit, daß Lippe doch nicht so ganz hinter unserer Zeit zurückgeblieben, mit auf den Weg.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Lünig
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 553. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_553.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)